Die deutschen Nationalspieler waren verliebt. Verliebt in ein Stadion, und ganz besonders in eine Kurve, in DIE Kurve, die einfach die Wand genannt wird. Dort, im Süden des Dortmunder Stadions sind die treusten Fans zu Hause. Von dort kommen jene Schwingungen, die unter dem Jahr Borussia Dortmund nach vorne treiben. Und zu Hohezeiten auch die deutsche Nationalmannschaft. «Das Dortmunder Stadion ist ein Vulkan, der brodelt», hat Jürgen Klinsmann erkannt. Ein Grund, der vor der Partie für Deutschland sprach, war laut Michael Ballack, «dass sie gegen die Wand spielen». Mit «sie» waren die Italiener gemeint.
Um wie vieles grösser war da der Frust ob des abrupten Endes dieser Liebesbeziehung. Seit 1935 hatte es bei jeder Begegnung gefunkt - nie hat Deutschland hier ein Spiel verloren. Dreizehn Siege, ein Remis, 59:7 Tore. Bis gestern. Da löschte Fabio Grosso das Feuer. Aus dem Mythos Dortmund ist ein normales Stadion geworden - so «normal» diese Oper des Fussballs eben werden kann, in der eine einzigartige Stimmung herrscht.
Es lag nicht an den Bemühungen beider Seiten. Die Fans sangen, sie schrien, sie hüpften, sie tobten. Ihnen war das Motto «zu Gast bei Freunden» schnuppe, sie pfiffen auch. Gellend bereits als ein italienischer Fan vor dem Spiel seine Landsleute via Stadion-TV begrüssen sollte. Sie erstickten jeden Anfeuerungsruf der Italiener mit ihren Pfiffen. Hier muss der Stadionspeaker nicht seine erzwungene Neutralität aufgeben, wie im Viertelfinal, als er noch während des Spiels von der Fifa ausgetauscht wurde, weil er die Fans darauf aufmerksam machte, die deutsche Mannschaft brauche jetzt die Unterstützung «ganz besonders».
Während sich auf dem Rasen zwei grosse Mannschaften einen leidenschaftlichen Zweikampf liefern, ächzen oben, auf den Tribünen, 65 000 mit. Die Masse rennt mit Klose durch die italiensiche Abwehr, sie erstarrt kurz bei Gilardinos Pfostenroller, sie gebärdet sich wie eine Bestie, als Podolskis Schuss von Buffon mirakulös abgewehrt wird.
Gegen welche Urkraft die Italiener anzuspielen haben, wird schon vor dem Spiel jedem klar, der den Weg vom Banhof ins Stadion unter die Füsse nimmt. Durch den nachgebildeten Spielertunnel geht es unter der Geräuschkulisse des wartenden Publikums hinaus, vor die Wand. Unvermittelt, riesig, lautstark. Eine Machtdemonstration, selbst als Nachbildung. Ob sich die italienischen Tifosi wirklich willkommen fühlen, nur weil alibimässig noch ein «Welcome» auf das Bild der Fankurve gedruckt wurde? Auf jeden Fall sind sie bereit, Unsummen auszugeben, um ihr Team unterstützen zu können. 850 Euro bezahlt ein Italiener für ein Ticket der zweiten Kategorie.
Wie gefährlich dieses Stadion ihrer Mannschaft werden kann, hatte die «Gazzetta dello Sport» genau bemerkt. Sie beeilte sich am Spieltag, das Stadion möglichst umzudeuten: «Dortmund, casa Del Piero», Dortmund, Heimstadion Del Pieros. Weil dem Fantasista hier einst im Jahre 1995 ein wunderbares Champions-League-Tor gelang. Und Del Piero trifft wieder, zum 2:0.
Der Vorhang fällt. Die Deutschen verabschieden ihre Mannschaft mit einem letzten, aufmunternden «Deutschland, Deutschland». Am Ende, als das Stadion beinahe leer ist, sind sie dann zu hören, die Italiener. Sie singen «andiamo tutti a Berlino» - wir fahren alle nach Berlin! (Original Pressetext)