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RECHT

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?Urf

?Urf bezeichnet in der arabischen Stammesgesellschaft und in der islamischen Rechtstheorie das ungeschriebene Gewohnheitsrecht, das weder auf den Koran oder die Normsetzung des Propheten Mohammed, noch auf den Konsens oder Urteilsbemühung der islamischen Gelehrten zurückgeführt werden kann.


Der Begriff kommt auch im Koran vor. So heißt es in Sure 7:99: "Übe Nachsicht, gebiete den ?Urf und wende dich von den Törichten ab." Der Begriff ist von der gleichen arabischen Wortwurzel abgeleitet wie der Ausdruck al-ma?r?f ("das Rechte, das Anerkannte") in der koranischen Wendung: Das Rechte gebieten und das Verwerfliche verbieten.

Aus der Aussage in Sure 7:99 wurde in der islamischen Rechtstheorie abgeleitet, dass ?Urf normativen und autoritativen Charakter hat, allerdings war die Abgrenzung gegenüber anderen Rechtsquellen nicht immer ganz klar. Ab? Y?suf (gest. 798) zum Beispiel betrachtete ?Urf noch nicht als eine eigene Rechtsquelle, sondern als Teil der Sunna, die seiner Auffassung nach nicht nur die Rechtspraxis des Propheten umfasste, sondern auch den allgemeinen Rechtsbrauch. Überschneidungen ergaben sich auch mit dem Idschm?? ("Konsens"), doch wurde hier die Abgrenzung so getroffen, dass Idschm?? nur den Konsens der Rechtsexperten darstellen soll, während ?Urf die Verhaltensübereinstimmung der Allgemeinheit der Menschen sei.

Besonders im Kaufrecht spielte ?Urf schon früh eine wichtige Rolle. Hier galt der Grundsatz: "Das, was durch ?Urf feststeht, ist wie das, was durch eine Vertragsklausel feststeht" (a?-??bit bi-l-?urf ka-?-??bit bi-?-?ar?). Die Entwicklung zu einer eigenen Rechtsquelle erfolgte allerdings erst in der Frühen Neuzeit. In dieser Zeitperiode befassten sich vor allem hanafitische Gelehrten mit dem ?Urf und teilten ihn in verschiedene Unterarten ein. So wurde 1. zwischen Sprachbrauch (?urf qaul?) und Handlungsbrauch (?urf ?amal?) unterschieden; 2. zwischen allgemeinem Brauch (?urf ??mm) und speziellem Brauch (?urf ????), also solchem Brauch, der lokal, sozial oder sonstwie begrenzt war, sowie 3. zwischen "gesundem Brauch" (?urf ?a???) und schlechtem Brauch (?urf f?sid). Als schlechter Brauch wurde jeder Brauch angesehen, der im Widerspruch zu den vier anderen Rechtsquellen stand. Er sollte nicht als argumentative Grundlage im Recht verwendet werden dürfen. Hinsichtlich der Stellung des speziellen Brauchs gab es Meinungsverschiedenheiten. Einige Gelehrte urteilten jedoch, dass er berücksichtigt werden müsse und damit allgemeine Rechtsregeln spezifiziert werden könnten.

Eine besonders wichtige Rolle bei der Ausarbeitung der ?Urf-Regeln spielten die beiden hanafitischen Gelehrten Ibn Nudschaim (gest. 1563) und Ibn ??bid?n (gest. 1836). Ibn Nudschaim war auch derjenige, der als erster die Aufwertung des ?Urf zu einer eigenständigen Rechtsquelle beschrieb. So sagte er in seinem Rechtswerk al-A?b?h wa-n-na???ir: "Wisse, dass man im Fiqh bei so vielen Problemen auf Gewohnheit (??da) und Brauch (?urf) zurückgreift, dass man es zu einer Rechtsquelle (a?l) gemacht hat." Die Aufwertung des ?Urf zur Rechtsquelle ermöglichte in der Frühen Neuzeit in den hanafitischen Gebieten die Anpassung der islamischen Normen an die sozialen Realitäten und leitete einen Prozess der "praktischen Säkularisierung des islamischen Rechts" ein. Dieser Prozess kam mit der Veröffentlichung der osmanischen Mecelle zum Abschluss, die in ihrer Einleitung zehn Artikel zu den Regeln des ?Urf enthielt. In einem dieser Artikel heißt es: "Festlegung durch ?Urf ist wie eine Festlegung durch heiligen Textbeleg zu beurteilen" (At-Ta?y?n bi-l-?urf ka-t-ta?y?n bi-n-na??).

Auch heute noch argumentieren viele muslimische Gelehrte mit ?Urf, allerdings bestehen unterschiedliche Ansichten hinsichtlich seines Stellenwertes im Gesamtsystem der Rechtsquellen, die auch mit unterschiedlichen Madhhab-Traditionen zusammenhängen. Aufgrund der großen Rolle des ?Urf im islamischen Recht wird die Kenntnis der jeweils vorherrschenden Sitten und Gebräuche als eine Voraussetzung für die Ausübung des Idschtih?d betrachtet.

Literatur

  • Haim Gerber: Islamic Law and Culture 1600-1840. Leiden u.a. 1999. S. 105-116.

  • Baber Johansen: "Coutumes locales et coutumes universelles: aux sources des règles juridiques en droit musulman hanéfite" in Annales islamologique 27 (1993) 29-35. Wieder abgedruckt in B. Johansen: Contingency in a Sacred Law. Legal and Ethical Norms in the Muslim Fiqh. Leiden u.a. 1999. S. 163-171.

  • Gideon Libson: "On the Development of Custom as a Source of Law" in Islamic Law and Society 4 (1997) 131-155.

  • Gideon Libson: Art. "?Urf 1. The status of custom in Islamic law" in The Encyclopaedia of Islam. New Edition Bd. X, S. 887b-888b.

  • F.H. Stewart: Art. "?Urf 2. Arab customary law" in The Encyclopaedia of Islam. New Edition Bd. X, S. 888b-892a.

  • Thomas Gerholm, Hadia Mubarak: Art. "?Urf" in John L. Esposito (ed.): The Oxford Encyclopedia of the Islamic World. 6 Bde. Oxford 2009. Bd. 5, S. 491-495.

  • Birgit Krawietz: Hierarchie der Rechtsquellen im tradierten sunnitischen Islam. Berlin 2002. S. 291-313.

  • Ayman Shabana: Custom in Islamic law and theory: the development of the concepts of ?urf and ??dah in the Islamic legal tradition. New York 2010.

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