Der Kanon der Medizin ; lat. Canon medicinae'') ist das bekannteste medizinische Werk von Avicenna (? 1037). Es ist in fünf Hauptabschnitte unterteilt und vereint griechische, römische und persische medizinische Traditionen.
Inhalt
Der
Kanon der Medizin ist streng untergliedert. Die fünf Bücher (Libri) sind in Stoffeinheiten (Doctrinae), Untereinheiten (Fen), Kapitel (Capitula) sowie Zusammenfassungen (Summae) unterteilt.
Das erste Buch enthält eine Definition der Medizin als Wissenschaft, sie wird in Theorie und Praxis unterschieden. Als Ursachen von Gesundheit und Krankheit führt Avicenna stoffliche, bewirkende, formgebende und zweckdienliche Ursachen an. Dies soll helfen, den menschlichen Körper zu untersuchen, um ihn von Krankheit wieder zurück zur Gesundheit zu führen. Dem Arzt stehen hierzu fünf Mittel zur Verfügung: Ernährungstherapie, gute Luft, ein ausgeglichenes Verhältnis von Bewegung und Ruhe sowie als letzte die Behandlung durch Arzneimittel oder durch chirurgische Eingriffe. Es folgen Darstellungen zu den Elementen und des Kosmos sowie, sehr ausführlich, zur Säftelehre. Hier systematisiert Avicenna erstmals die Lehren von Galenos von Pergamon. Als Krankheitskonzept hatten sie teils bis ins 19. Jahrhundert Bestand, als sie von der Zellularpathologie (Rudolf Virchow) und der medizinischen Mikrobiologie (Robert Koch) abgelöst wurden.
Das zweite Buch enthält eine Arzneimittelkunde (Materia medica). Zu Beginn geht Avicenna auf die Primärqualitäten (warm, kalt, feucht, trocken) ein und erläutert, wie die Mischung verschiedener Einzeldrogen ihre Wirksamkeit beeinflusst. Anschließend stellt er sieben Regeln zum Exerimentieren auf:
- Die Droge darf nicht durch Hitze, Kälte oder Nähe zu anderen Drogen beeinflusst sein.
- Die Droge darf nur bei einzeln auftretenden Leiden angewendet werden, nicht aber bei kombinierten Krankheiten.
- Die Droge muss bei zwei gegensätzlichen Leiden getestet werden, um die Wirksamkeit auf Ursache und Symptome zu überprüfen.
- Die Potenz der Droge sollte der Schwere des Leidens angemessen sein.
- Die Zeit, die eine Droge zum Wirken benötigt, sollte beachtet werden. Daraus lässt sich schließen, ob Symptome oder Ursache des Leidens gelindert wurden.
- Der Effekt der Droge sollte in allen Fällen gleich sein, oder zumindest in den meisten.
- Experimente sollten am Menschen und nicht an Tieren durchgeführt werden.
In alphabetischer Form werden nun Einzeldrogen in 758 Kapiteln behandelt. Sie sind durch Stichworte systematisch gegliedert. Avicenna beschreibt hier u.a. Bolus armenus, die armenische Tonheilerde (Kapitel 423). Er schreibt ihr blustillende Wirkung zu, sie soll bei Pestbeulen nützlich sein und besonders bei Wunden helfen. Außerdem soll sie bei Katarrhen und Kopfschmerzen wirksam einzusetzen sein, ebenso bei Geschwüren der Atemwege und des Verdauungstraktes sowie bei Fieber. Ab der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts lässt sich dieses Wissen auch in Europa nachweisen, u.a. im
Liber graduum von Constantinus Africanicus (? 1087) und im
Circa instans (Mitte des 12. Jahrhunderts). Auch andere, vorher in Europa unbekannte Drogen, fanden so ihren Weg in die Medizin des Abendlandes.
Das dritte Buch ist der Anatomie der Organe des Menschen und ihrer Erkrankungen gewidmet (Pathologie und Therapie). Es beginnt mit der Anatomie des Gehirns und behandelt dann entsprechende Krankheiten wie Epilepsie oder Schlaganfall. Am Ende stehen die Ausscheidungsorgane und ihre Erkrankungen. Die Extremitäten (Arme und Beine) fehlen. Sie gehörten in den Bereich der Chirurgie. Avicenna behandelt hier also ausschließlich die Innere Medizin.
Im vierten Buch werden die Krankheiten aufgeführt, die sich im ganzen Körper ausbreiten (Chirurgie und Allgemeinkrankheiten). Es beginnt mit den Fiebern, behandelt eitrige Geschwüre (Apostemata), Nervenleiden, Luxationen, Frakturen, Verletzungen durch Tiere (Tierbisse, Insektenstiche), Hauterkrankungen und Kosmetik.
Das fünfte Buch befasst sich mit der Herstellung von etwa 650 Heilmitteln aus mehreren Komponenten (Antidotarium). Es enthält teilweise sehr komplexe Arzneimittel, darunter auch verschiedene Theriak-Zubereitungen sowie Confekte, Elektuarien (Leckmittel), medizinische Öle, Sirupzubereitungen, Pillen und Salben. Den Schluss bildet eine Sammlung kürzerer Rezepturen gegen bestimmte Leiden.
Nachwirkung
Der
Kanon wurde nicht nur in der islamischen Welt, sondern ab dem 13. Jahrhundert in ganz Europa zum Standardwerk der medizinischen Ausbildung. Etwa 1170 übersetzte eine Gruppe um Gerhard von Cremona in Toledo ihn ins Lateinische. Diese Fassung wurde u.a. in der Schule von Salerno verwendet. Eine hebräische Übersetzung folgte 1279. Sie wurde 1491 in Neapel von den Gersoniden gedruckt. Die lateinische Textvorlage wurde 1507 in Venedig erstmals gedruckt. Ein Faksimile dieser Ausgabe erschien 1964 in Hildesheim. In Basel wurde 1556 eine weitere Fassung gedruckt, die 1976 in Teheran als Faksimile herausgegeben wurde. 1593 wurde in Rom der arabische Text erstmals gedruckt. Dennoch war im 16. Jahrhundert der Einfluss des
Kanons bereits am schwinden. Die Humanisten zogen lieber griechische und römische Autoren heran als Avicenna. In Padua wurde der
Kanon jedoch im frühen 18. Jahrhundert noch für die Lehre verwendet.
Doch schon Otto Brunfels (? 1534) und Leonhart Fuchs (? 1566) kritisierten, das Werk Avicennas sei noch nicht komplett verstanden. In gewissem Maße trifft das auch heute noch zu. Der Kanon ist weiterhin Gegenstand weltweiter Forschung. Eine vollständige deutsche Übersetzung gibt es bis heute nicht.
Ausgaben und Übersetzungen
lateinisch (Renaissance)
- Liber canonis. Venedig 1507, Nachdruck Olms, Hildesheim 1964
- Liber Canonis, De medicinis cordialibus et Cantica. Basel 1556, Neudruck: Teheran 1976 (die erstmals 1544 in Venedig gedruckte zweite Auflage der von Andrea Alpago überarbeiteten Fassung der mittelalterlichen Übersetzung von Gerhard von Cremona)
lateinisch (modern)
- Avicenna Latinus. Louvain / Leiden 1968 ff. (kritische Gesamtausgabe des lateinischen Avicenna)
englisch
- ''Avicenna's Physics of the Healing.'' A Parallel English-Arabic Text in Two Volumes, Brigham Young University Islamic Translation Series, hrsg. und Übers. von Jon McGinnis, 2 Bände, Brigham Young University Press, Provo UT 2010.
deutsch
- Teilübersetzung von Liber I In: Johannes Gottfried Mayer, Konrad Goehl: Kräuterbuch der Klostermedizin. Reprint-Verlag, Leipzig 2003. ISBN 3-8262-1130-8 S. 74-124
Literatur
- Donald Campbell: Arabian medicine and its influence on the Middle Ages. London 1926, Neudruck Amsterdam 1974.
- Johannes Gottfried Mayer, Konrad Goehl: Die Grundzüge der Medizin Avicennas. In: Kräuterbuch der Klostermedizin. Reprint-Verlag, Leipzig 2003. ISBN 3-8262-1130-8 S. 42-73
Digitalisate
- Libri quinque canonis medicinae. Erstdruck des arabischen Textes, Rom: Typographia Medicea, 1593 (Saab Medical Library, American University of Beirut, zuletzt aufgerufen am 12. Januar 2014)
Weblinks