Die
Molaren-Inzisiven-Hypomineralisation (MIH, engl.: Molar-incisor hypomineralization) ist eine spezielle Form der Schmelzbildungsstörung, nämlich einer systemisch bedingten Hypomineralisation der Sechsjahr-Molaren (Zähne 16, 26, 36, 46) und/oder der oberen bleibenden Inzisivi (Schneidezähne). Es handelt sich um eine Variante der Strukturstörungen der Zahnhartsubstanz (Zahnschmelz).
Endogen bedingte Strukturstörung
Die Molaren-Inzisiven-Hypomineralisation gehört zu den endogen bedingten Strukturstörungen, die als Folge eines temporären Mangelzustandes oder einer direkten Funktionsbeeinträchtigung oder Schädigung der normal angelegten zahnbildenden Zellen auftreten. Die Störungen können prä-, peri- und postnatal eintreten. Daher können beide Dentitionen (Milchzähne als auch bleibende Zähne) betroffen sein; die bleibenden Zähne sind dabei deutlich häufiger betroffen, insbesondere Zähne bzw. Zahngruppen, die zeitgleich mineralisieren. Die Strukturschädigung beschränkt sich auf eine bestimmte Entwicklungsphase der Zähne.
Ätiologie
Der Einfluss auf die Mineralisation, der zur MIH führt, vollzieht sich hauptsächlich im ersten Lebensjahr. Die Ursache der MIH ist weitgehend ungeklärt. Der Evidenzgrad der Mehrzahl der bisherigen diesbezüglichen Studien ist niedrig. Es gibt Hinweise darauf, dass die Aufnahme von Dioxinen oder polychlorierten Biphenylen (PCB) mit der Muttermilch an der Ätiologie der MIH beteiligt sind. Die Rolle der Ernährung, Geburtszwischenfälle und zahlreiche akute oder chronische Kinderkrankheiten beziehungsweise deren Behandlung könnten eine Rolle spielen, wobei eine Amoxicillin- oder Erythromycingabe im ersten Lebensjahr das Risiko einer MIH-Entstehung deutlich erhöht.
Eine Studie zur Verbreitung und Verteilung von MIH in Deutschland ergab, dass die durchschnittliche Anzahl der von MIH betroffenen permanenten Zähne 2,8 ±1,7 betrug. Die meisten Zähne wiesen dabei umschriebene Opazitäten auf, aber gut die Hälfte der Kinder litten an der schweren Form mit Substanzverlust, atypischen Restaurationen oder Schmerzen. Es konnte ein eindeutiger Zusammenhang zu Veränderungen an zweiten Milchmolaren festgestellt werden und bei der schweren Form erhöhte sich auch im Durchschnitt die Anzahl der betroffenen Zähne. Ein Vergleich mit dem regionalen Antibiotikakonsum bei kleinen Kindern konnte keinen Zusammenhang zu Unterschieden in der MIH-Rate herstellen.
Klinisches Bild
Die Mineralisationsstörung der betroffenen Zähne ist sehr variabel. Sie reicht von weiß-gelblichen oder gelb-braunen, abgegrenzten Opazitäten bis hin zu schweren Hypomineralisationen mit fehlenden Schmelz- und Dentinarealen von unterschiedlichen Ausmaßen. Hypomineralisierte Zähne weisen häufig eine Hypersensibilität insbesondere auf Kältereize auf, die im Alltag zu einer natürlichen Schonhaltung führt, die oft von Eltern nicht wahrgenommen wird. Die Kinder leiden dadurch beträchtlich.
Schweregrade der Hypoplasien
Schweregrade der Hypoplasien nach Wetzel und Reckel
Grad | Beschreibung
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Grad I | Einzelne cremefarbene bis braune Areale an Kauflächen/Höckerspitzen beziehungsweise an den vestibulären Flächen von Schneidezähnen.
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Grad II | Überwiegend gelb-brauner Zahnschmelz, hypomineralisierte Bereiche über die Okklusalfläche hinaus beziehungsweise an der gesamten vestibulären Fläche von Schneidezähnen. Erhöhte Gefahr für Schmelzfrakturen und gesteigerte Empfindlichkeit der betroffenen Zähne
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Grad III | Große gelblich-braune Areale im gesamten Zahnbereich. Gegebenenfalls Schmelzverluste oft vor dem vollständigen Durchbruch der Zähne. Hohe Empfindlichkeit der Zähne.
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Differentialdiagnose
Man unterscheidet bei den Strukturstörungen der Zahnhartsubstanz zwischen exogen, endogen und genetisch bedingten Strukturstörungen.
Exogen bedingte Strukturstörungen
Exogen bedingte Strukturstörungen sind durch exogene, also äußere (entzündliche, traumatische oder strahlenphysikalische) Noxen an einzelnen Zahnkeimen verursacht. Dabei treten die Strukturstörungen solitär, asymmetrisch und überwiegend unilateral an einzelnen Zähnen oder Zahngruppen auf.
Genetisch bedingte Strukturstörungen
Genetisch bedingte Strukturstörungen sind erblich bedingt. Man erkennt ein generalisierte Vorkommen in der ersten und zweiten Dentition. Die Familienanamnese kann hierbei Aufschluss geben, falls familiär vergleichbare Schäden an den Zähnen aufgetreten sind, die in gleicher Art und Weise betroffen sind. Hierzu gehört die Amelogenesis imperfecta
Regionale Odontodysplasie
Die
regionale Odontodysplasie (Zahnmissbildung) gehört zu den nicht genetisch bedingten Strukturstörungen. Die Ursachen sind unbekannt. Vermutet werden eine Störung der Entwicklung mesenchymaler und ektodermaler Strukturen der Zähne, eine Störung in den Zellen der Neuralleiste, eine Infektion oder ein Mangel an vaskulärer Versorgung, wobei letztere Hypothese am weitesten verbreitet ist. Auch eine Strahlentherapie kann zur Odontodysplasie führen. Von dieser Abnormalität betroffene Zähne können persistieren (nicht durchbrechen). Die Zähne sind kleiner, zeigen vermehrte Grübchen und Furchen und haben häufig eine braune bis gelbliche Verfärbung. Röntgenologisch erkennt man ein großes Pulpenlumen mit einem dünnen Hartsubstanzmantel, das Wurzelwachstum ist verzögert, Schmelz und Dentin lassen sich kaum voneinander abgrenzen, die Radioopazität (Strahlendurchlässigkeit) ist vermindert. Auf Röntgenbildern erscheinen diese Zähne oft durchsichtig und verwaschen, was ihnen den Namen
Ghost teeth (engl.: Geisterzähne) eingebracht hat.
Dentalfluorose
Während Fluorid in einer Dosierung von ca. 1 mg/Tag als ein wirksames Mittel zur Kariesprophylaxe (Fluoridierung) angesehen wird, erzeugt es in höheren Dosen die Zahnfluorose, bei der sich weiße bis braune Verfärbungen in Form von Flecken oder Streifen auf der Zahnschmelzoberfläche bilden.
Tetracyclin-Zähne
Bei Schwangeren (da Tetracycline die Plazentaschranke frei passieren) und Stillenden sind Tetracycline kontraindiziert, da sie mit Calcium in irreversibler Komplexbildung in den kindlichen Zahnschmelz (und Knochen) eingebaut werden. Dies führt zu einer erhöhten Frakturanfälligkeit und brauner Verfärbung der Zähne. Erst ab einem Lebensalter von 10-12 Jahren können Tetrazykline auch bei Kindern angewendet werden. Nicht gesichert ist, ob Tetracycline auch Schmelzhypoplasien verursachen können. Eine Tetracyclintherapie soll deshalb u. a. in der Therapie der Akne bei Kindern und Jugendlichen nicht eingesetzt werden.
Therapie
Lokalanästhetika haben an diesen Zähnen häufig nur eine eingeschränkte Wirkung, woraus eine Behandlung meist nur unter Analgosedierung oder in Allgemeinanästhesie möglich ist. Als Füllungs- bzw. Ersatzwerkstoffe bei MIH?Zähnen sind Komposite, Konfektionierte Metallkronen, Glasionomerzement (nur als temporäre Füllung) geeignet. Nicht empfehlenswert ist die Verwendung von Amalgam. Bei nur geringen Defekten kann eine Fissurenversiegelung ausreichend sein (Grad I). Überempfindlichkeit nach Füllungstherapie können durch korrekte Anwendung des Adhäsivsystems und der dadurch erreichten vollständigen Versiegelung der Dentinkanälchen vermieden werden. Engmaschige Nachsorgetermine im Abstand von drei bis vier Monaten einschließlich professioneller Zahnreinigung und regelmäßiger lokaler Fluoridierung sind unumgänglich.
Extraktionen der hypomineralisierten 6-Jahr-Molaren sind sinnvoll, wenn schnell fortschreitende Abplatzungen der Zahnhartsubstanzen zu diagnostizieren sind, es sich um einen Platzmangel handelt, der sowieso eine kieferothopädische Behandlung nach sich zieht oder die Mundhygiene aufgrund der ausgeprägten Temperaturempfindlichkeit stark eingeschränkt ist.
Die definitive Versorgung der Defekte erfolg im frühen Erwachsenenalter mittels Zahnkronen.
In leichten Fällen der IMH, bei denen lediglich weißliche Opazitäten im Zahnschmelz auftreten, zeigt die lokale Anwendung einer Zubereitung aus ?-Casein Phosphopeptid-amorphem Calciumphosphat (CPP-ACP) und Wasserstoffperoxid eine ästhetische Verbesserung.
Begriffshistorie
Der Begriff der Molaren-Inzisiven-Hypomineralisation wird seit dem Kongress der
European Academy of Paediatric Dentistry (EAPD, der Europäischen Akademie für Kinderzahnheilkunde) im Jahre 2001 verwendet. Zuvor wurden diese Strukturstörungen als
nicht endemische Schmelzflecken,
Idiopathische Schmelzhypomineralisation der ersten Molaren,
Cheese molars oder
nicht fluoridbedingte Hypomineralisationen der ersten Molaren, beziehungsweise auch als
Molaren-Inzisiven-Hypoplasie bezeichnet.
Literatur