Ein Bericht, der unbeabsichtigt im Internet als
PDF-Dokument mit Datum vom 30. Juni 2009 veröffentlicht wurde, liefert Einsichten in ein heimlichtuerisches Projekt der Europäischen Union, das darauf ausgerichtet ist, die Bürger zu überwachen, wie Wikileaks am 4. Oktober berichtete. Das Projekt INDECT zielt auf die Ausspähung von Daten der Fernseh- und Internetnutzung, Kommunikation per Mobiltelefon, Peer-to-Peer-Netzwerke, Datenaustausch und gemeinsame Datennutzung (file-sharing) und eine Reihe anderer Quellen zur Kriminalprävention und der Voraussage möglicher Bedrohungsszenarien. Auf ihrer Projektseite im Internet gibt die EU als Hauptziel des international koordinierten Vorhabens die Entwicklung einer Plattform für "die Registrierung und den Austausch operationaler Daten, die Aneignung multimedialer Inhalte, deren intelligente Verarbeitung und automatisierte Aufdeckung von Bedrohung und die Erkennung abnormalen Verhaltens oder von Gewalt" an. Das 14,68-Millionen-Euro-Projekt begann im Januar 2009 und soll laut der gegenwärtigen Genehmigung fünf Jahre dauern.
INDECT ist ein Kunstwort, das eine Abkürzung für "Extraction of Information for Crime Prevention by Combining Web Derived Knowledge and Unstructured Data" darstellt (übersetzt etwa: "Gewinnung von Information zur Kriminalprävention durch Kombination webbasierter Erkenntnisse und unstrukturierter Daten"). Dieses Projekt ist zwar für die unbeabsichtigte Veröffentlichung des Berichts verantwortlich, es führt aber nicht alle möglichen Anwendungen der Such- und neuen Überwachungstechnologie auf. Die Polizei gilt als primärer Nutznießer der Daten, polnische und britische Streitkräfte gelten als aktive Entwickler des Überwachungsprojekts. INDECT fußt auf dem Forschungsrahmenprogramm der Europäischen Kommission (FP7), an dem Bulgarien, Deutschland, Frankreich, Ungarn, Österreich, Polen, die Slowakei, Spanien, die Tschechische Republik und das Vereinigte Königreich teilnehmen.
Testphase des Projekts INDECT und seines möglichen Nutzens, die Enthüllung seiner "Verkaufsmasche"
Wie sich bereits in dem Bericht von dem ersten Probeversuch des Projekts andeutet, ist der Anwendungsbereich der so gewonnenen Daten recht breit; dazu gehörte eine tageweise Erfassung der im Internet verbreiteten Nachrichten in digitaler Form einschließlich der Nutzerzugriffe; auch Aufzeichnungen telefonischer Unterhaltungen gehören dazu. Wochenlange Aufzeichnungen der Nutzung von Inhalten aus Onlinequellen beinhaltet die Ausspähung von Benutzern und ihrer Artikelthemen sowie ihrer Beziehungen mit anderen Benutzern, Organisationen und die Ausspähung projektinterner Abläufe.
Die Kennzeichnung digitaler Medien und geistigen Eigentums wie Filmen, Audiowerken oder anderer Dokumente mit digitalen Wasserzeichen wird als Aufgabenbereich des Projekts INDECT diskutiert; Zweck der Übung ist es, die Verbreitung dieser Informationen nachzuverfolgen und in die bereits gesammelten Datenbeständen zu integrieren, den Fluss dieser Informationen innerhalb des Systems der Medien und überall durch das Internet aufzuspüren.
Schlussfolgerungen, Implikationen, mögliche Einflüsse auf den investigativen Journalismus
Technologische Forschung als Teil des Projekts INDECT wendet sich klar gegen industrielle und internationale Spionage, obwohl die Möglichkeiten des Projekts zur Gewährleistung von "Sicherheit" und der Voraussage von Informationslecks viel weitgehender sind. Dazu ein Zitat aus dem Daily Telegraph (Großbritannien). Shami Chakrabarti beschreibt eine mögliche zukünftige Implementierung von INDECT als einen "finsteren Schritt" mit "positiver Abschreckung" und europaweiten Auswirkungen.
"Es ist unvermeidlich, dass das Projekt eine sensible Dimension besitzt, die aus dem Focus auf Sicherheitsziele des Projekts resultiert", antwortete Suresh Manandhar, führender Kopf der Forschungsgruppe an der Universität von York, die mit dem "Work Package 4", einer INDECT-Komponente, befasst ist, auf Anfrage von Wikinews. "Jedenfalls ist es wichtig, sich bewusst zu machen dass die wissenschaftlichen Methoden viel allgemeiner sind und breitere Anwendungsmöglichkeiten besitzen. Das Projekt wird sehr wahrscheinlich ein großes kommerzielles Potenzial entwickeln. Es verfügt über einen Ethikrat, der die Aktivitäten des Projekts überwacht. Als verantwortungsbewusste Wissenschaftler ist es für uns von größter Bedeutung, dass wir uns an ethischen Grundsätzen orientieren."
Wikinews-Benutzer haben zwar versucht, Professorin Helen Petrie von der "York University", die Mitglied des Ethik-Komitees von INDECT ist, zu kontaktieren, haben aber keine Antwort erhalten. Die Professorin beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit Universal Access. Außerdem hat sie einige Aufsätze zum Thema Barrierefreies Internet verfasst, d.h. darüber, wie das Web auch für blinde und behinderte Menschen nutzbar gemacht werden kann. Eine vollständige Liste der Mitglieder des Ethikausschusses ist nicht verfügbar, wodurch die Tauglichkeit der Besetzung des Gremiums nicht beurteilt werden kann.
Eine mögliche Anwendung des INDECT-Projekts wäre die Implementierung und Umsetzung des Handbuchs des Verteidigungsministeriums des Vereinigten Königreiches für Fragen der Sicherheit (U.K. "MoD Manual of Security"). Das 2.389 Seiten lange Dokument aus dem Jahr 2001, das in diesem Monat auf Wikileaks veröffentlicht wurde und gemeinhin unter der Bezeichnung "JSP-440" (Joint Services Protocol 440) bekannt ist, ist als "geheim" klassifiziert und befasst sich sehr genau damit, wie, im Falle einer ernsthaften Bedrohung, investigative Journalisten überwacht und ihre Arbeit effizient durchkreuzt werden kann; genau das Szenario, das im INDECT-Projekt-Video dargestellt wird.
Von Wikinews auf die möglichen Implikationen der Nutzung von INDECT angesprochen, lehnte ein Vertreter der Generalstaatsanwaltschaft der britischen Regierung eine Stellungnahme bezüglich der denkbaren rechtlichen Standards ab, die zur Überprüfung eines solchen Systems heranzuziehen wären. Weitere Anfragen im Vereinigten Königreich sind noch im Gang, so bei der Polizeibehörde von Nordirland, die bisher noch nicht beantwortet wurden.
Reaktionen von E.F.F. Europe
Wikinews-Benutzer
Brian McNeil kontaktierte
Eddan Katz, International Affairs Director der Electronic Frontier Foundation (E.F.F.). Das letzte Mal sprach Katz gegenüber Wikinews Anfang des Jahres 2008 über Copyright. Damals hatte er gerade seine aktuelle Stelle bei der E.F.F. angenommen. Er kehrte nach Brüssel zurück, um mit EU-Mitarbeitern zu sprechen. Das Projekt INDECT stand dabei auch auf seiner Agenda - nachdem er nur zwei Wochen zuvor davon gehört hatte. Katz verband das Projekt INDECT mit dem September-Bericht
NeoConopticon — The EU Security-Industrial Complex, der von
Ben Hayes für das Transnational Institute geschrieben wurde. Der Bericht wirft ernste Fragen über die starke Verstrickung von Verteidigungs- und IT-Firmen in die "Sicherheitsforschung" auf.
Katz beantwortete ein paar Fragen für Wikinews.
Wikinews: Ist das illegal? Ist das ein Eingriff in die Privatsphäre? Bespitzelung von Bürgern?
Eddan Katz: Als das Europäische Parlament den Bericht vom 5. September 2001 über das amerikanische ECHELON-System herausgab, wusste es, dass solch eine Infrastruktur das Datenschutzgesetz verletzt, die Werte der Privatsphäre unterwandert und der erste Schritt zu einer totalitären Überwachungs-Informationsgesellschaft ist.
Wikinews: Wer trifft die Entscheidungen, die auf diesen Informationen beruhen, worüber?
E.K.: Was in solch einem großen Ausmaß besorgniserregend ist, ist die Tatsache, dass die Projekte blind bezüglich dieser Frage sind. Dieses sind die Suchsysteme und diejenigen, die daran in den Forschungslaboren arbeiten, machen eh Forschungstechnologie. [...] Aber die Einbettung in eine Datenbank und ihre Verfügbarkeit, um das Gesetz zu vollstrecken und die Gleichzeitigkeit der Anwendung, das ist so besorgniserregend [...] weil die Leute, die es aufgebaut haben, nicht über diese Fragen nachdenken, und nicht über die sozialen Fragen, die politischen Fragen und all das. [...] [... Es] sieht so aus, als sei es undurchschaubar, unverantwortlich.
Der EU-Bericht, auf den sich Katz bezieht, wurde sechs Tage vor den Anschlägen vom 11. September 2001 ratifiziert, bei denen die Zwillingstürme des World Trade Centers zum Einsturz gebracht wurden. In ihrer Analyse des US-Spionagesystems Echelon heißt es: "Im Prinzip fallen Aktivitäten und Schritte zum Zweck der Staatssicherheit oder Strafverfolgung nicht in den Bereich des EU-Vertrags."
Anlass der Analyse von Echelon waren Gerüchte über "kommerziellen Missbrauch" der Geheimdienste: "Wenn ein Mitglied des Staates den Gebrauch eines Abhörsystems vorantreiben sollte, das auch zur Industriespionage verwendet wurde, indem er seinem eigenen Geheimdienst erlauben würde, solch ein System zu benutzen oder fremden Geheimdiensten Zugang zu seinem Territorium zu diesem Zweck gewähren würde, wäre das unzweifelhaft ein Bruch des EU-Rechts. [...] Aktivitäten dieser Art würden dem Konzept eines gemeinsamen Markts, der den EU-Vertrag untermauert, diametral entgegenstehen, da es zu einer Wettbewerbsverzerrung kommen würde."
In Ben Hayes' NeoConoptiocon-Bericht steht in einem der letzten Abschnitte ("Following the money"): "Was in der Praxis passiert, ist, dass multinationale Kooperationen das ESRP [European Seventh Research Programme] nutzen, um ihre eigene, von Profit getriebene Agenda voranzubringen, während die EU das Programm benutzt, um ihre eigene Ziele in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik weiterzuentwickeln. Wie es von vornherein in diesem Bericht suggeriert wird, repräsentiert diese Art von Sicherheit, wie sie oben beschrieben wird, die Heirat von unkontrollierter Polizeigewalt mit ungezügeltem Kapitalismus - auf Kosten des demokratischen Systems."
Zu Gesetzen zur Privatsphäre und zum Datenschutz, die auf EU-Ebene eingeführt wurden, heißt es: "[So etwas] gehört nicht zur ?Verarbeitung von Daten/Aktivitäten, die die öffentliche Sicherheit, Verteidigung, Staatssicherheit (einschließlich das ökonomische Wohlergehen des Staates, wenn sich die Aktivitäten auf Staatssicherheitsangelegenheiten beziehen) und Aktivitäten des Staates in Gebieten des Kriminalrechts betreffen'."