Wenn die Zeugen Jehovas bei mir klingeln, habe ich ein nicht unwesentliches Problem: Mein Moralempfinden verbietet es mir, diesen unliebsamen Gästen skrupellos die Haustür vor der Nase zuzuschlagen, denn im Regelfall bin ich um maximal zwei Ecken mit ihnen verwandt. So darf ich regelmäßig angeregte Diskussionen über das nahende Paradies und die Rettung dieser Welt führen, während derer ich und die Missionare sich im mitleidig und nachsichtig Lächeln zu überbieten versuchen. |
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Es klingelt an der Tür ...
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| | Als Grundschülerin musste ich miterleben, wie meine Tante Seiten aus meinem heißgeliebten Poesiealbum riss, weil meine Cousine keine Bibelzitate hineingeschrieben hatte, sondern den üblichen schlecht gereimten Quatsch, den gewöhnliche Neunjährige ihren Freundinnen so gerne mit auf den Weg geben. Dass die Hälfte meiner Familie nicht nur meine Geburtstage ignorierte, sondern auch Fasching, Weihnachten und andere Ereignisse, die für Kinder die Fixpunkte des Jahres bilden, blieb mir zwar unverständlich, war aber irgendwie normal.
Noch heute sehe ich mich als kleines bezopftes Mädchen am Tisch meiner Großeltern sitzen, wie ich beim Anblick der dampfenden Speisen mental schon in die Startlöcher sprang, bereit, genießerisch zuzuschlagen - um mich dann noch für Minuten gedulden zu müssen, demütig den Kopf zu Boden gesenkt, den mir schon damals sinnlos anmutenden Tischgebeten lauschend. Es gab eine Zeit, da presste ich noch widerwillig ein "Amen" aus meinem Mund. Später wich es stummer Rebellion.
Systematische Manipulation schon in der Kindheit
Nachdem ich in das Alter gekommen war, in dem man beginnt, zumindest ab und an auch ansatzweise selbständig zu denken, wich mein Unverständnis der Wut. Weil mir bewusst wurde, wie systematisch gerade Kinder innerhalb der Sekte von der Außenwelt abgeschnitten und manipuliert werden. Ich musste erfahren, dass ein Zusammenkommen meiner kompletten Familie so gut wie unmöglich war: Sollten sich doch die strenggläubigen Ehemänner zweier Tanten nicht mit deren abtrünnigen Schwestern in einem Raum befinden.
Als ich erfuhr, dass eine meiner Cousinen von den Zeugen mit einem Jehova-gläubigen Afrikaner verheiratet worden war, damit jener eine Aufenthaltsgenehmigung erhielt, hatte ich den Kontakt zum sektiererischen Teil meiner Familie schon längst einschlafen lassen.
Wie weit die Familienbande hier noch reichten, machte sich bei der Beerdigung meines Großvaters sehr deutlich bemerkbar. Bedenklich genug, dass meine Großmutter sich nach der Beisetzung zu einem Juchzen hinreißen ließ: "Oh Anne, du bist ja da! Ich freu mich ja so, dass du gekommen bist! Das hätte ich nun wirklich nicht gedacht!" Noch bedenklicher wohl, dass sie dabei nicht mich zwischen ihren Armen fast erdrückte, sondern meine Schwägerin: blond, 30 Zentimeter größer und zehn Jahre älter als ich.
Zeugen Jehovas live. "Vernünftige Menschen haben ihren Platz im Haus der Trauer", tönte es während der nicht enden wollenden Predigt am Sarg meines so fremd gebliebenen Verwandten, "unvernünftige Menschen haben ihren Platz im Haus der Freude." Das Lächeln, das sich in mein Gesicht schlich, wollte ich mir nicht einmal verkneifen. Wie wunderbar: Da macht unvernünftig sein doch gleich noch mehr Spaß!
Jehovas treue Schafherde
Es könnte ein Zeugnis von emotionaler Armut sein, nach der Beerdigung eines Blutsverwandten den Sarkasmus mit Bestecksätzen gefressen zu haben. Doch zu sehr amüsierten mich die selbsterkenntnisreichen Zeilen der textsicheren Glaubensgenossen: "Jehova, du bist unser Hirte. Deine treuen Schäfchen vergisst du nicht. Du führst sie sicher nach Haus." Wie erfüllend es sein muss, Teil einer treuen Schafherde zu sein.
Zum ersten Mal seit acht Jahren sah ich jene Cousine wieder, mit der ich mich als Kind stundenlang im Hof meiner Großeltern dem Gummitwist hingegeben hatte. Einst waren wir das gewesen, das man mit dem magischen Wort "Freunde" bezeichnet. Da war sie, 22, an ihrer Seite ein 34jähriger Schnauzbartträger. Ihr Ehemann. Zwar war unser Gespräch vom ersten Augenblick an sehr vertraulich, doch hatte ich eine Problematik unterschätzt: Über was spricht man mit einer Zeugin Jehovas?
Ich erzählte von meinem Studium. Sie verstand kein Wort. Fremde Welt. Sollte ich sie etwa fragen, wie es ihr so geht als Zeugin Jehovas? Etwas anderes als das sah ich in ihr nicht mehr. Ich suchte danach. Aber ich fand nichts. Zeugin vom Haaransatz bis zu den Zehenspitzen. Die Sekte das ganze Leben.
Da bleibt nur, in Erinnerungen zu schwelgen. (Damals, als wir Kinder waren und noch so viel formbarer.) Und das ist traurig, wenn man sich ständig fragen muss: "Warum hast du nicht irgendwann rebelliert?" Sie sagte, sie sei glücklich. Ein glückliches Schaf in der treuen Herde. |
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Kommentare über ReligionNomad7 am 08.09.2005: Hallo I/O,
um ehrlich zu sein, ich bin mir nicht sicher. Im Moment bin ich im Renovierungs-/Umzugsstress, hab' also leider nicht genug Zeit, eine wirklich fundierte Antwort zu erarbeiten. Wenn ich mehr Zeit habe, komme ich bestimmt darauf zurück.
Nur so viel: Als die Jünger Jesus fragten, was das Zeichen wäre, dass er kommt (oder, wie die WTG es auslegt, schon da wäre), hat Jesus eine Reihe von Dingen, wie Kriege und Erdbeben erwähnt. Nur, waren diese Dinge selbst das Zeichen, oder waren sie Dinge, vor denen die Jünger *keine* Angst haben sollten, von denen sich die Jünger *nicht* beunruhigen lassen sollten, weil sie eben nicht das Zeichen wären? Jesus sagte ja ". . .seht zu, daß ihr nicht erschreckt. Denn diese Dinge müssen geschehen, aber es ist noch nicht das Ende. . ." (Matthäus 24:6).
So wie ich das sehe, war dies die eigentliche Antwort auf die Frage der Jünger: ". . .Und dann wird das Zeichen des Menschensohnes im Himmel erscheinen, und dann werden sich alle Stämme der Erde wehklagend schlagen. . ." (Matthäus 24:30)
Das scheint mir mit dieser Aussage im Einklang zu sein: ". . .denn zu einer Stunde, da ihr es nicht denkt, kommt der Menschensohn. . ." (Matthäus 24:44)
Aber, wie gesagt, ich bin mir nicht ganz sicher. Muss noch darüber nachdenken.
LG
N7
Insider/Outsider am 07.09.2005: was mich noch interessieren würde: wie denkst du über das Zeichen, das Jesus seinen Jüngern voraussagte! In letzter Zeit denke ich oft darüber nach, denn niemand sonst hat so oft darauf hingewiesen wie die Zeugen. Und wenn man sich die letzten Wochen so ansieht, kann einem schon manchmal etwas mulmig werden. Denn an die Bibel glaube ich nach wie vor!
Insider/Outsider am 07.09.2005: . mit letzterem haben wir allerdings etwas gemeinsam!
Nomad7 am 06.09.2005: Kleiner Nachtrag: . dabei möchte ich bestimmt nicht pauschal alles schlecht machen, was Jehovas Zeugen lehren. Nächstenliebe ist Nächstenliebe, Ehrlichkeit ist Ehrlichkeit, egal ob diese gute Eigenschaften von Jehovas Zeugen, Baptisten oder Buddhisten gelehrt werden.
Trotzdem ist es in meinen Augen leider so, dass in vielen Fällen Irrtum als Wahrheit vom Wachturm gelehrt wird, dass die Lehren und das Beispiel Jesu Christi falsch dargestellt werden.
Ich bin ganz bestimmt kein "ZJ-Hasser". Ich habe einfach nur eine akute Allergie gegen Lügen, Vertuschungen und Heuchelei, und werde diese überall dort bloßstellen, wo ich sie finde; in der katholischen Kirche, bei den Zeugen Jehovas, in der Politik, der Wirtschaft oder sonstwo.
Nomad7 am 05.09.2005: Zitat Insider/Outsider: "Also mal ehrlich . 90% von dem, was in den Veröffentlichungen der Zeugen Jehovas steht, sind doch in Ordnung!"
Würdest du diese Aussage als deine persönliche Meinung qualifizieren wollen? Alternativ wäre ich gerne bereit, die Behauptung Lehrpunkt für Lehrpunkt Anhand der Bibel ausdiskutieren, z.B. im Forum hier: ww.sektenausstieg.net . :-)
Zitat I/O: "Denn FALSCHE PROPHETEN sind die meisten anderen christlichen Gemeinschaften in noch viel größerem Ausmaß und das auch noch voll bewußt!"
Über 'andere Kirchen' möchte ich an dieser Stelle keine Meinung äußern, weil es in meinen Augen irrelevant ist. Vor welchem Gericht der Welt würde es einem Verbrecher etwas nutzen, zu sagen, "Ja, es stimmt, ich hab's getan.. aber warte mal! Dieser andere Verbrecher hier drüben hat noch viel schlimmere Dinge getan!"?
Zitat I/O: "Wenn man bei den Zeugen Falschinterpretationen kritisiert, dann muß man ihnen doch zugute halten, dass es zum Großteil aus Glauben heraus geschehen ist.
Das stimmt! Die Vertuschungen und Schönfärberei hinterher auch?
Zitat I/O: Was man von kirchlichen Lehren wie zB Zölibat, Verhütungsverbot und dgl. nicht behaupten kann, da sie ohne jegliche biblische Grundlage sind!"
Und ich würde behaupten (und auch jederzeit ausdiskutieren) dass Lehren, wie das Verbot von Bluttransfusionen, die Zweiklassengesellschaft ("Brüder Christi" / "andere Schafe"), das Jahr 1914, und die Legitimation des "treuen und verständigen Sklaven" - nur um ein paar zu nennen - jeder biblischen Grundlage entbehren.
Liebe Grüße
N7
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