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AMOKLäUFE 25.11.2006

Realitätsscheuklappen in der schönen, heilen Welt

Und wieder hat Deutschland sein neues "Littleton". Wie an dem aus Michael Moores Film "Bowling for Columbine" bekannten Ort, an dem zwölf Schüler ihr Leben verloren, stürmte Sebastian B. am 20. November 2006 seine ehemalige Schule in Emsdetten. Bewaffnet mit vier Gewehren und drei Rohrbomben schoss er um sich. Rund 30 Menschen wurden verletzt, drei davon schwer. Der 18-jährige Amokläufer tötete sich noch im Schulgebäude selbst. Ein Kommentar über die Hintergründe.
Wer ständig gegen Mauern läuft, gibt irgendwann auf. Wenn der Hass zudem noch groß genug ist, besteht die Gefahr, dass Situationen eskalieren
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Wer ständig gegen Mauern läuft, gibt irgendwann auf. Wenn der Hass zudem noch groß genug ist, besteht die Gefahr, dass Situationen eskalieren
Schenkt man den lauten Stimmen aus der lokalen Politik Glauben, dann konnte man sich gar nicht vorstellen, wie so etwas in dem schönen Emsdetten passieren konnte. Auch die Bundespolitiker sind, wie immer, heillos schockiert. Immerhin ist wenigstens der Schuldige schnell gefunden: Es sind schwarze Mäntel, häufige Besuche auf einem Friedhof und vor allem brutale Computerspiele. Der passende Umkehrschluss dazu lautet: Verbietet schwarze Mäntel, Friedhöfe und Ballerspiele und unsere Welt ist wieder heil.

Die Blindheit, Voreingenommenheit und Ahnungslosigkeit, mit der die Politiker nach einem Sündenbock suchen, sind ein Armutszeugnis, ebenso die Ignoranz gegenüber alldem, was Sebastian B. uns und ihnen mit seinem Abschiedsbrief eigentlich mitteilen wollte. Die Ballerspiele und die eilig geforderten Verbote haben nämlich nur eine einzige Funktion: es soll die Sache für uns einfacher machen. Und zwar nicht etwa einfacher, das Geschehene zu verkraften.

Die Problemlösung "Ballerspieleverbot” gibt den Politikern die Gelegenheit, gleichzeitig energisch, aber ohne jedes Problembewusstsein durchzugreifen, ohne das eigene Handeln oder die Struktur der Gesellschaft in Frage stellen zu müssen. Denn die wahren "Schuldigen" sind wir, allen voran die "Heile-Welt-Prediger" der Politik. Es geht um Welt in der wir leben und aufgewachsen sind und die die heutigen Politiker mit geschaffen haben. Die Welt, die mittlerweile gar nichts mehr mit dem Idyll der 50er-Jahre Heimatfilme zu tun hat, in dem die Politiker zu leben scheinen.

Die Antwort des Täters

Dabei hat Sebastian B. uns unsere Fragen beantwortet; in einem sehr langen und ausführlichen Abschiedsbrief. Darin geht es nicht um die zunehmende seelische Verrohung durch Ballerspiele. Es geht um das Gefühl des Versagens, das er vor allem in der Schule erlebte. Viele Menschen wissen, dass Lehrer nicht selten den Kausalschluss aufstellen: Deine Note ist schlecht, also bist Du schlecht! Nicht etwa: "Schade, das hat nicht geklappt, arbeite hier oder da dran". Außerdem bilden sich soziale Hierarchien nicht selten über Noten aus. ("Was hast du?")

Amokläufer teilen oft ihrer Umwelt mit, wie einsam und ausgegrenzt sie sich fühlen. Allerdings wird diesen Äußerungen nicht immer Beachtung geschenkt
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Amokläufer teilen oft ihrer Umwelt mit, wie einsam und ausgegrenzt sie sich fühlen. Allerdings wird diesen Äußerungen nicht immer Beachtung geschenkt
Es geht und um das Gefühl der Einsamkeit und darum, dass er sich als Außenseiter nicht in die Klasse integrieren konnte. Das Problem der Einsamkeit ist, dass es zwei Mauern gibt, die Eigene und die der Anderen. Alle glauben, der Außenseiter müsste auf die Anderen zugehen. Keiner weiß, dass sich die Anderen dafür auch öffnen müssen. Wer ständig gegen Mauern rennt, gibt irgendwann auf.

Eigentlich geht es um das Gefühl von Verletzung. Es geht darum, den anderen nie zu genügen und auch nie genügen zu können, um Chancenlosigkeit. Hass ist eine der vielen möglichen Folgen und jeder weiss, dass der Hass nicht das aus den Tiefen einer dunklen verdorbenen Seele stammt und durch "Gruftietum" und Ballerspiele genährt wird, sondern die Folge einer Vielzahl von Verletzungen und der Unfähigkeit ist, aus sich selbst und der eigenen sozialen Rolle auszubrechen.

Im Endeffekt geht es vielleicht auch um die Erwartungshaltung, die die Gesellschaft - bewusst oder unbewusst - gegenüber Männern hat. Frauen gesteht man zu, zu weinen, Nervenzusammenbrüche oder Depressionen zu bekommen, schwach zu sein, wenn sie sich schlecht fühlen. Männer müssen stark sein. Schwächegefühle sind der Tod. Männer müssen hassen, aggressiv sein. Müssen die Wut und den Hass kontrollieren. So lange, bis der innere Druck zu stark ist - bis er raus will und nicht kann. Vielleicht erklärt dies den Bombengürtel um Sebastians Bauch.

Die Verantwortung der Elterngeneration

Wir vergessen auch zu gerne, dass ein Gewalttäter nicht außerhalb der Gesellschaft aus einem tiefen, dunklen Loch steigt um Unheil über die Welt zu bringen. Das möchten aber diejenigen glauben, für die die ideale 50er-Jahre Fernsehwelt noch zu existieren scheint. Das macht es schließlich einfach für uns. Der Gewalttäter entwickelt sich aber innerhalb der Gesellschaft, unserer Mitte - die Mitte, die es, genau genommen, gar nicht mehr gibt. Heutzutage lebt der Mensch für sich selbst, es gewinnt derjenige, der die härtesten Ellenbogen hat. "Leistungsgesellschaft" oder "Leistungsorientierung" nennen das die Politiker. Die Gesellschaft ist kein Netz mehr, in dem der Einzelne aufgefangen wird, sondern ein Balanceakt, bei dem immer wieder Einzelne durch die Maschen fallen. Wer fällt, versagt. Wie Sebastian B. Mittlerweile fehlt uns ein "miteinander", uns fehlt die soziale Kompetenz. Dafür haben wir die Gleichgültigkeit.

Immer mehr müssen! Die junge Generation hat Ängste, die oft herabgespielt werden. Wut und Hass resultieren teilweise aus Ansgt und Verzweiflung
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Immer mehr müssen! Die junge Generation hat Ängste, die oft herabgespielt werden. Wut und Hass resultieren teilweise aus Ansgt und Verzweiflung
Das ist die Welt, in der wir, die jetzt jungen Erwachsenen aufwachsen oder aufgewachsen sind, eben in der gleichen "Leistungsgesellschaft", die den einzelnen gleichzeitig isoliert und immer mehr von ihm fordert. Besonders für uns, die Teenager und jungen Erwachsenen, ist das ein Problem. Jeder von uns hat mit unzähligen persönlichen Schwierigkeiten zu kämpfen. Das beginnt beim ersten Liebeskummer, den ersten Jobs, und endet mit den ersten schwierigen Schritten ins Erwachsenenleben. Dabei hätten wir in unserer Pubertät die Förderung, die Unterstützung und den Zuspruch der "Schon-Erwachsenen" gebraucht. Deren Credo, ob sie jetzt Eltern, Lehrer oder Politiker sind, ist aber stets: "Du musst mehr leisten! Wenn du nichts leistest, bist du nichts Wert! Reiß dich zusammen! Krieg den Arsch hoch!"

Hilflosigkeit einer Generation

Schon das schulische Notensystem ist unbarmherzig. Wer einen Elternteil verliert, schreibt ein Jahr lang Sechsen, wenn er sich nicht "zusammenreißen" kann. Es geht lange nicht mehr darum, dass junge Menschen etwas leisten sollen. Viel mehr sollen wir funktionieren. Unsere Gefühle, unsere Unsicherheit und unsere Angst sind egal, wir müssen mehr müssen. Ob im Pisa-Test, in der Schule, in der Ausbildung, an der Uni. Die Politiker sind mit schuldig, weil sie uns in solch einer Welt aufwachsen lassen und diese sogar noch fördern, in dem sie immer mehr Forderungen an uns stellen, während sie jeden Blick für die Realität verloren zu haben scheinen. Ihre Realität sind Autos und Häuser, Gärten und Wahlgewinne. Sauerbraten und Saumägen. Gepflegtes Heim, die Frau am Herd. Zucht, Ordnung, Disziplin.

Unsere Welt ist folgende: Angst vor der Zukunft, alleine Kinder groß ziehen. Nicht wissen, wie man die Studiengebühren bezahlen soll. Keinen Ausbildungsplatz bekommen. Das Gefühl bekommen, ein Versager zu sein. Arbeitslos sein. Mittellos sein. Haltlos sein. Weder Autos, Häuser, Gärten noch Sauerbraten haben. Niemals die Perspektive, jemals Autos, Häuser, Gärten oder Sauerbraten zu haben. Immer mehr Müssen und immer mehr Scheitern.

Das ist der Appell an die Gesellschaft und die Politik, den Sebastian in seinem Abschiedsbrief an uns aber auch an die Generation unserer Eltern richtet: Setzt die Realitätsscheuklappen ab und fangt an, euch um uns zu kümmern. Vor allem: Hört uns zu! Sebastians Angriff auf seine ehemalige Schule ist viel mehr als eine erschreckende, durch Ballerspiele ausgelöste Tat in einer Reihe von Taten. Darin zeigt sich - in konzentrierter Form - die Krise, die Verletztheit und die Hilflosigkeit unserer Generation.
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Artikel vom 25. November 2006

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