C6 MAGAZIN
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Das grelle Licht

Alles begann im Jahre 1313. Diese Zahlen allein sind schon magisch, doch lest selbst, welche unvorstellbaren Dinge sich zugetragen haben. Es geschah in einem kleinen Dorf, unweit eines großen Feldes mit roter Erde.
In dem kleinen Dorf steht, fast am Rande, ein Häuschen aus Lehm gebaut.

Das Dach ist ganz und gar mit Schilf bedeckt. Sehen wir durch das kleine Fenster hindurch, das sich unmittelbar über der runden Haustür befindet. Es ist wirklich spärlich eingerichtet, aber es ist für diese Zeit so üblich, wenn es sich nicht gerade um Edelleute handelt. In der Mitte steht ein Tisch aus dunklem Holz und einem Stuhl. Ihm gegenüber an der Decke hängt ein großer schwarzer Kessel, aus dem Rauch empor steigt. Rechts an einer der vier Wände steht eine Pritsche, auf der ein weiß-blaues Kissen und eine Decke liegen. Das ist der Schlafplatz. Lasst uns sehen, wer hier wohnt. Eine junge Frau tritt jetzt an den Kessel heran. Ihr Haar trägt sie lang und offen. Es schimmert herrlich rot. Ihr langes schlichtes grünes Kleid schleift auf dem Boden hin und her, wenn sie sich bewegt. Ihre Füße sind fast gar nicht zu sehen. Es lässt sich nur erahnen, dass sie barfuss ist. Sie rührt mit einem großen Holzlöffel in dem Kessel herum und säuselt leise ein paar Worte vor sich her. Ihr Gesicht ist blass. Sie hat eine kleine runde Nase und grüne Augen. Ihre Lippen sind rot und schmal.

Von dem Weg, der zu dem kleinen Häuschen führt, sind jetzt schwere Schritte zu hören, die immer schneller werden zu sein scheinen. Der Staub auf dem Weg wird aufgewedelt. Es ist ein heißer Tag im Juli. Lange schon warten die Bewohner hier auf den ersehnten Regen. Was soll nur aus der Ernte werden? Die Schritte sind nicht mehr zu hören, dafür stehen fünf Soldaten vor dem Haus der rothaarigen Frau. Sie klopfen. Die junge Frau mit dem blass – runden Gesicht öffnet die Tür, die knarrend nachgibt. Der Soldat, der ganz vorn an der Tür steht, erhebt das Wort, nachdem er eine große Schriftrolle vor sich hält: "Patty Herford, Ihr seid der Hexerei angeklagt! Kommt mit uns!"

"Was? Aber ich habe doch nichts unrechtes getan!" Ihre Stimme zittert. Sie weiß, was mit Frauen geschieht, die der Hexerei beschuldigt werden. Sie wird ihr Leben verlieren und dabei war es doch erst so kurz! Ohne jeglichen Widerstand folgt sie den Männern. Sie hat ja auch keine Chance. Was soll sie tun? Durch die offene Tür fegt der Wind den aufgewirbelten Sand hinein. Es ist totenstill. Nur die schweren Schritte sind in der Ferne noch zu hören.

Machen wir einen kleinen Sprung. Es ist bereits dunkel draußen. Der Mond scheint halbvoll am Himmel. Grillen zirpen, und es ist noch immer drückend warm. Den ganzen Tag war Patty den Soldaten gefolgt. Es war ein anstrengender Fußmarsch gewesen. Die Sonne stand hoch am Himmel und schien ohne Gnade heiß auf den Rücken der zierlichen Frau. Aber sie hielt tapfer durch, obwohl ihre Füße schon taub zu sein schienen. Sie wurde, wie erwartet, in die Stadt gebracht, in der, oben auf einem Berg, ein riesiges Schloss steht. Dieses Schloss hat eine größere Anzahl Kerker als Diener. Patty sollte erst am morgigen Tag bei Sonnenaufgang zum König gebracht werden. Die Soldaten führten sie in einen der vielen Kerker. Hier ist es beunruhigend still, obwohl die Räume gut gefüllt sind voll mit Dieben, Magiern, Bettlern und der Hexerei beschuldigten Frauen und Kindern. Patty setzt sich auf den harten Boden, der nur spärlich mit Stroh bedeckt ist. Sie seufzt leise vor sich hin. Womit hat sie das nur verdient? Nie hätte sie daran gedacht, dass man gerade sie einmal der Hexerei anklagen würde. Sie hatte doch immer den Menschen geholfen. Niemals hatte sie an etwas Böses gedacht. Sie ist ganz in Gedanken versunken und so bemerkt sie auch nicht den Jungen, der ihr gegenüber an einer Wand hockt.

"Wer bist du?" Patty wird aus ihren Träumen gerissen und bemerkt jetzt den Knaben, der nicht älter als sechszehn Jahre zu sein scheint. Er hat kinnlanges schwarzes lockiges Haar. Das haselnussbraune Hemd und die schwarze Hose, die er trägt, sind ganz löchrig. Wie sie ist er barfuss.

"Mein Name ist Patty!", sagt sie traurig.

"Ich bin Angus! Was hast du getan?" Seine großen braunen Augen mustern sie neugierig.

"Ich habe gar nichts getan! Ich weiß nicht, warum gerade ich hier hergebracht wurde!" Patty erzählt Angus ihre Geschichte. Er hört ihr aufmerksam zu. Sie ist die Ärztin des Dorfes und hat bei Geburten geholfen, junge wie auch alte Menschen gesund gemacht und Trost gespendet, wo immer es notwendig war. Natürlich hat sie auch etwas geforscht mit Heilkräutern. Sie stellte ihre eigenen Elixiere her. Das ist aber für eine Ärztin nichts ungewöhnliches. Angus und Patty redeten die ganze Nacht. Dabei erfuhr sie, dass er am morgigen Tag entlassen werden würde, da er seit vorigem Winter hier ausharren musste. Er hatte lediglich einen Apfel gestohlen und wurde so hart bestraft.

"Sag, Angus, willst du mir helfen?", fragt Patty ihn voller Hoffnung. Er sieht sie fest an.

"Natürlich! Aber wie?" Gespannt hört er ihr zu. Sie berichtet ihm von einem großen Geheimnis. Vor einem Monat hatte sie ein Elixier zusammengebraut, das Gehbehinderten helfen sollte. Vor einiger Zeit wendete sie es zum ersten Mal bei einer gelähmten alten Frau an, die daraufhin wieder laufen konnte. Bestimmt hatte einer ihrer Verwandten Patty daraufhin der Hexerei beschuldigt.

"Höre nun gut zu, teurer Freund! Das Elixier befindet sich unter meinem Kissen im Haus. Es ist aufbewahrt in einem hohlen Rinderknochen. Nimm ihn an dich und gehe hinaus auf das Feld mit der roten Erde und vergrabe es dort irgendwo ganz tief. Du musst aber noch das frische Labkraut mitnehmen. Am besten du vollziehst alles, wenn der volle Mond am Himmel steht. Hast du alles verstanden?", fragt sie.

"Ja, natürlich!" Angus nickt.

"Gut. In drei Tagen wird es ein Unwetter geben! Blitze und Donner werden am Himmel entlang zucken. Der volle Mond wird trotz des Unwetters zu sehen. Dann ist genau der richtige Zeitpunkt dafür!"

"Aber es kann doch so vielen Menschen helfen!" Angus schüttelt fassungslos den Kopf. Patty sieht auf.

"Leider sind die Menschen heute noch nicht so weit, dies zu begreifen. Ehe es noch mehr unschuldige Tote gibt, die der Hexerei angeklagt werden, ist es besser so, glaube mir. Alle einhundert Jahre wird ein Gewitter für mehrere Minuten die Kraft des Elixiers freisetzen. Vielleicht hilft es ja dann noch jemandem! Es kommt ganz auf dich an!"

"Du kannst dich auf mich verlassen, Patty!"

Angus hielt sein Versprechen. Drei Tage später vergrub er den Knochen bei vollem Mond und Gewitter. Das frische Labkraut, mit dessen Hilfe ein Gewitter hervorzusehen war, lag daneben. Was aus Patty wurde, so hat er sie niemals wiedergesehen. Man sagt, sie wurde vor einen König namens Flemming gebracht, doch einen solchen hat es zu dieser Zeit nicht gegeben...

Machen wir einen erneuten größeren Zeitsprung. Wir befinden uns im Jahre 1913. Es ist Sommer, der Juli hat gerade seine Mitte erreicht. Die Sonne scheint unerbittlich heiß. Tagelang hat es nicht geregnet. Tim und Tom, beide gerade dreizehn Jahre alt geworden, wollen ihren gleichaltrigen Freund Till zum Fußballspielen abholen. Die Hitze macht ihnen nichts aus. Sie sind gerne unterwegs. In jeder freien Minute spielen sie Fußball. Das ist ihr Lieblingssport. Schade nur, das Till nicht richtig mitspielen kann – er sitzt im Rollstuhl. Das tut ihrer Freundschaft aber überhaupt keinen Abbruch. Ganz im Gegenteil. Sie schieben ihn auch beim Spiel hin und her, so dass er mit einbezogen wird und nicht nur zusehen muss. Till ist seit seiner Geburt gelähmt und sehr oft traurig, wenn er seine Freunde spielen sieht. Sie laufen, springen, tanzen – das kann er nicht. Natürlich zeigt er es keinem. Wenn er aber abends in seinem Bett liegt und zum lieben Gott betet, wünscht er sich auch ein normaler Junge zu sein. Dann weint er oft, denn sein Wunsch hat sich nie erfüllt.

"He, Till, kommst du mit uns? Wir wollen zum Fußballspielen! Nur wir drei- wie immer!", ruft Tom ihm schon von weitem zu. Till sitzt im Garten und sieht seiner Mutter beim Blumengießen zu.

"Wo wollt ihr denn hin?", fragt er neugierig.

"Dort hinter euer Haus, auf das rote Feld!", erklärt Tim und deutet mit seinem rechten Zeigefinger nach Süden.

"Welches rote Feld denn? Hinter dem Haus ist doch gar nichts außer einem Wald! Also, ich weiß nicht... !

"Komm schon, Till, sei kein Spielverderber! Wir werden eine Menge Spaß haben!", ruft Tom. Obwohl sich ihre Namen gleichen, sind sie sehr verschieden. Tim ist ein kleingewachsener Knabe mit braunem Haar. Tom dagegen ist groß und blond. Und Till... ,ja Till... Er hat schwarzes lockiges Haar und seine Größe ist schwer zu schätzen. Er versteht nicht, warum seine beiden Freunde ihn stets dabei haben wollen. Sie sind doch ohne ihn viel besser dran. Er ist doch nur ein lästiges Anhängsel!

"Mam, darf ich?" Till weiß, gegen seine Freunde hat er keine Chance. Sie würden nicht eher aufhören zu drängen, bis er sich geschlagen gibt.

"Natürlich, Schatz! Aber sobald es dunkel wird, bist du wieder hier!"

"Natürlich werden wir Till vor Sonnenuntergang wieder zurückbringen! Machen Sie sich keine Sorgen!", ruft Tim noch und schon eilen die drei davon. Da ist es – das Feld mit der roten Erde! Sofort fangen die Jungs zu spielen an und vergessen die Zeit. Erst als es langsam immer dunkler wird, bemerken sie , dass die Sonne bereits unter gegangen ist. Der Mond steht groß und voll am Himmel. Mit seiner ganzen Kraft leuchtet er hell auf die drei Jungs.

"Lasst uns gehen sonst gibt es Ärger mit meiner Mam!", ruft Till seinen Freunden zu.

"Wir gehen gleich, Till! Nur noch ein Schuss!", ruft Tim. Der Ball liegt zu seinen Füßen. Er läuft an, tritt und schießt. Eigentlich soll Tom ihn halten, doch er fliegt haarscharf an ihm vorüber. Helle Blitze zucken einen Augenblick später am Himmel entlang und es donnert so laut, das die Freunde sich voller Furcht die Ohren zuhalten. Tom und Tim stehen nebeneinander. Etwas weiter entfernt sitzt Till in seinem Rollstuhl. Die Freunde wollen zu ihm gehen, doch sie bleiben im gleichen Atemzug wie angewurzelt stehen! Um Till herum hat sich ein weißes Licht wie eine Mauer aufgebaut. Till verspürt keine Angst. Das Licht ist warm und gut. Es dauert Minuten, bis es wieder verschwunden ist. Dann fängt es an, wie aus Kannen zu gießen. Tim und Tom laufen zu ihrem Freund. Sie sehen sich an, sagen nichts. Jedem stehen die Fragen ins Gesicht geschrieben: Was war das und wo kam es her? Doch es bleibt keine Zeit ,um diese zu beantworten, denn Till muss nach Hause. Tim beginnt, den Rollstuhl zu schieben, als Till plötzlich ruft : "Halt!" Zum Erstaunen seiner Freunde steht er langsam auf und geht noch unsicheren Schrittes entgegen.
rk
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Artikel vom 28. März 2003


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