C6 MAGAZIN
-----------------------------------------------------------------------

Schatten

Er drehte sich vor dem Spiegel. Seine langen, blonden Haare rahmten sein schmales, leicht gerötetes Gesicht mit der starken, sehr männlich wirkenden, etwas nach vorne gebogenen antiken Römernase ein. Die schmalen Lippen verliehen ihm etwas Zurückhaltendes, Schüchternes. Er band seinen Schopf tief im Nacken zusammen, und betrachtete sich wieder. Das leuchtende rot seines karierten Holzfällerhemdes stach ihm in die Augen. Er hatte Dutzende davon.
Einige fein säuberlich geglättet auf breiten Holzbügeln im Schrank, andere lagen irgendwo in der karg eingerichteten Wohnung herum. Sie verdeckten seinen dürren, fast schon filigran wirkenden Körper wie unter einem weitem Mantel, ließen ihn noch schlanker erscheinen, als er eh schon war.

Seine blonden Wimpern und Augenbrauen gaben seinem Blick etwas Unauffälliges, doch genau diese Ausdruckslosigkeit wurde durch das strahlende Blau seiner flinken, klugen Augen, die kühl in den weichen Höhlen lagen, gleichmäßig weit entfernt von seiner Nase lagen, wettgemacht. Sie versprühten den Charme einer schüchternen Fröhlichkeit, der Aufmerksamkeit eines Lurches, nur manchmal, wenn er in den großen Kaffeebecher starrte, seine sechs Stück Zucker in dem heißen Getränk mit einem kühlen, silbernen Löffel vermischte, dann verlor sich sein Blick in dem hellbraunen, leicht aufschäumenden Strudel, und das satte Blau seiner Augen wurde wässrig trübe. Dann saß er für einen Moment lang gedankenverloren und unnahbar da, die Welt um ihn herum verschwamm zu einem großen Ganzen. Er hatte dann das Gefühl, als stiller Beobachter neben sich zu stehen. Pure, unbeachtete Anwesenheit, niemand, der sich in das Glied des fortlaufenden Geschehens eingereiht hätte.

Dann, wenn er den Kaffee für genießbar hielt, war er wieder da. Die Gedanken, die ihm eben noch im Kopf herum geschwirrt waren, die keiner aus seinem Gesicht lesen konnte, die stille Bedrücktheit – wie weggeblasen.

Seine XS Jeans schlabberte lose um seine langen, dünnen Beine, als er zurück ins Wohnzimmer schlurfte, und sich in den viel zu weiten Parka hüllte. Schlüssel klirrten in der Tasche. Das Geräusch hallte an den Wänden der notdürftig eingerichteten Wohnung ab. Das letzte Licht des Tages schimmerte sanft durch die gardinenlosen Fenster hinein, vermischt mit den grellen Strahlen der Neonröhren, die in blau gerändert aus den schon längst beleuchteten Straßenlaternen strahlten, und die Straße draußen in eine unnatürlichen Dämmerschein hüllten.

Als er die Tür hinter sich zuzog, blies ihm der harte Wind, der trotz des schon längst eingekehrten Frühlings nicht lauwarm, wie es sich für die beginnenden Aprilwochen gehörte, umwehte, sondern peitschte ihm herb, fast schon boshaft ins Gesicht. Er war alleine, rechts und links der Straße parkten einige Wagen unter dem Schutz der weit herausragenden Dächer. Er hatte es nicht eilig. Sein Zopf wippte im Takt zu seinen wiegenden Schrittbewegungen, als er die Straße überquerte, und mit einem kleinen, eleganten Hüpfer die graue Bordsteinkante erklomm.

"Is doch ein Kaff, hier", dachte er, und bog in die etwas belebtere Hauptstraße des kleinen, ruhigen Stadtteils ein. Hier blinken verloren irgendwo einige Reklameschilder herum, kleine Schaufenster säumten die Straße rechts und links, an der Ampel hielten wenige Autos.

Das große "M" einer bekannten Fastfood-Kette leuchte grellgelb hinter der lichten Blätterkrone eines mit Eisen umzäunten, auf einer in den Asphalt eingelassenen Stück Muttererde, hervor. Er war fehl am Platz. Seine Anwesenheit zierte nicht, verschönerte nicht, störte nicht. Solche Typen gehörten zum nicht gerade schmuckvollen Bild der faden Großstadt. Der graue Dunst meterhoher Fabrikschornsteine, einige Kilometer Luftlinie entfernt, verfing sich in dem in Fußhöhe wabernden Nebel. Mit unsichtbarer Gelassenheit geleitete er ihn bis zu der schmierigen Tür des einst modernen Glaspalastes, hinter dessen schmierigen Scheiben sich eine Schlange Hungriger anstellten, um einen der triefenden, weichen Burger auf langweilige braune Plastiktabletts zu laden, um gelbe Brause aus Pappbechern zu schlürfen.

Immer wieder fielen sie auf die leuchtend bunten Reklameschilder mit Abbildungen saftiger, frisch gegrillter Hamburger auf satten grünen Salatblättern und gesunden roten Tomatenscheiben hinein.
Der Küchendunst blies ihm wie eine salzige Wolke entgegen, in deren Fetttröpfchen sich der Duft nach Gebratenem verfing. Eine angenehme Gier nach diesem schlechten Essen legte sich auf seiner Zunge fest.

Links von ihm hatte es sich eine Gruppe Jugendlicher fast schon in wohnzimmerlichem Flair eingerichtet. Bunte Handys lagen neben dem Plastikpapier, eine Cremedose neben dem Pappbecher. Ein mit schwarzem Edding ruinierten Ordner ruhte sich auf einer Pfütze brauner Brause aus, sog die klebrige Cola fest in seine kartonierten bläulichen Fasern auf. Aus irgendeinem Grund hatte das viel zu stark geschminkte, etwa 17jährige Mädchen, ihre Ohrringe ausgezogen. Die schillernden Strasssteinchen auf dem Metallplättchen lagen neben einer Hand voll Strohhalme.
Ihre Begleiter beugten sich über ein tragbares Videospiel, das in unregelmäßigen Abständen laut piepste.

Hinter ihm stellten sich noch einige Leute an, die ebenfalls ihren Heißhunger mit der kargen Auswahl an Schnellgerichten stillen wollten. Die stämmige Türkin hinter dem Stahltresen winkte ihn heran, und legte mit einer monotonen Routinebewegung ein neues Tablett neben die Computerkasse mit der übergroßen Digitalanzeige. Nervös warf er einen Blick auf die Anzeigetafel hinter der beleuchteten Glasscheibe. Sie legte noch eine Papierunterlage auf das Tablett und schaute ihn dann ungeduldig an. Mit einem erwartenden Blick zog sie die Augenbrauen hoch, und spitze die Ohren, wartete auf seine Bestellung. Die ganze zeit über hätte er sich überlegen können, was er essen mochte. Die begrenzte Auswahl der Standardgerichte machte es ihm nicht einfacher. Er bewegte seine Lippen stumm, als er die Namen der verschiedenen Burger im Kopf durchlas. Er öffnete seinen Mund etwas weiter, fast schien es so, als wollte er etwas sagen, die Kassiererin hatte schon den Finger gestreckt, um die Bestellung in die Kasse einzutippen, starrte auf die zahlreichen, bunten Knöpfchen.

"Ähm,… ich schaue noch", erlöste er sie, trat einen Schritt zur Seite. Sie widmete sich sofort dem nächsten Gast. Er war schon nicht mehr da. Sein gerötetes Gesicht verschmolz mit der roten Zwischenwand, die die Essensausgabe von den Sitzplätzen trennte. Nur die schwarzen Karos seines Hemdes bildeten ein hemdenförmiges Muster, an dem zwei schlappe Jeansbeine baumelten.

Während die weißhaarige Frau, der man nicht zugetraut hatte, überhaupt in ein Schnellrestaurant zu gehen, ihre Münzen zusammen suchte, wurde sein Hunger immer größer. Er bestellte das, was er immer bestellte. 2 mal große Pommes frites mit Mayonnaise und Ketchup, zwei Doppelburger, eine große Cola, einen Donut mit Schokoladenglasur. Er hätte am liebsten noch einen Burger mit Schinken und dazu eine Portion Rühreier bestellt. Doch die Zeiten, in denen das amerikanische Frühstück auf der Speisekarte stand, waren schon lange vorbei.

Er bugsierte sein Tablett in die Raucherecke, verdrückte mit großen Bissen seine Burger, und machte sich dann über die bereits kalten Pommes frites her. Von hier aus hatte er einen guten Blick auf die Jugendlichen, die damit begonnen hatten, die Strohhalme zu bearbeiten. Sie knickten sie ein, drehten dann ein Luftloch in die dicken Röhrchen und schnippten dagegen. Das Geräusch erinnerte ihn an Schüsse aus Spielzeugpistolen. Sie lachten laut auf und trieben ihre Späße. Von der kleinen Türkin mit dem gesteiften Schiffchen über dem pechschwarzen Haar, die inzwischen den Boden feucht wischte, ernteten sie einen strafenden Blick, was sie allerdings nur noch mehr anstachelte, Unsinn zu treiben.
Als sie endlich kichernd das Lokal verließen, hinterließen sie einen Berg von Zellophanpapier und Essensreste, die sich bis zur Tischkante ausbreiteten.

Er bereitete sich innerlich schon auf seinen Auftritt vor. Im Kopf spielte er seine Mixe ab, seine Finger glitten im Takt über den Tisch, wie er sonst nur seine heiß geliebten Schallplatten streichelte. Sein Tablett wiegte leise im Takt mit, als er die Sachen auf den Abstellwagen verfrachtete. Beim Herausgehen glitzerten ihm die Strasssteine von den Ohrhängern entgegen. Er blinzelte.

Die Discokugeln drehten sich langsam aber regelmäßig, angetrieben von Motoren, deren Geräusche unter dem tobenden Lärm von annähernd vierhundert kreischenden Kehlen, die seinen Namen im Chor riefen, dabei ihre Hände in die Höhe reckten, ihre Körper anspannten, bis sie endlich von den ersten Tönen des in perfekten Übergängen verlaufenden Mixes erlöst wurden.
Ein Schauer jagte ihm über den Rücken. Das erste Lampenfieber war vorüber, er spürte das brennende verlangen nach einer Zigarette. Doch als die Meute wild zu tanzen begann, ihn unter Jubelschreien aufforderte, alles aus ihm herauszuholen, fühlte er sich wohl.

Er stand ganz alleine da oben. Die Gesichter der Menschen verschwammen zu einem Ganzen. Dichte Nebelwände trennten ihn von seinen Fans, bunte Lichter in allen Farben, die wie kurze Blitze aufzuckten, täuschten die trägen Augen. Die eleganten Tanzbewegungen verzerrten sich ruckartig, als würde ein Film abgespielt, in dem jedes dritte Bild fehlte.

Zärtlich strich er über die heißgelaufenen Platten, wieder rann ihm ein Wonneschauer über den Rücken. Er untermalte die Musik mit Kreationen aus verschiedenen Quietschtönen. Für jedes Uffz! erntete er Schreie, für jedes Quietsch! zusätzlichen Beifall und begeisterte Pfiffe.

Der Keeper brachte ihm jede Viertelstunde eiskaltes Cola, einige Fans schickten ihm mit Früchten an Spießen verzierte Cocktails. Er war wie im Rausch. Jetzt gab es nur noch ihn und seine Musik.
Das Leben ist eine einzige große Party.

Er schrak hoch, als er von hinten auf die Schulter getippt wurde. Hier auf der Bühne würde kein Fan auftauchen, ihn mit lästigen Autogramm- oder Liederwünschen nerven. Er drehte sich um. Er sah eine kräftige Gestalt vor sich. Der Mann tippte ungeduldig auf die Uhr, und zeigte ihm mit fünf Fingern an, dass bald der nächste DJ die Bühne betreten würde. Die Zeit war wie im Flug vergangen. Ihm war, als wäre er eben erst von der Menschenmenge dort unten stürmisch begrüßt worden.

Von rechts trat sein Kollege, eingefangen in den runden Scheinwerfern, die ihn bis zum Mischpult begleiteten, auf die Bühne. Als der Lichtstrahl seinen Arbeitsplatz erreichte, war sein Vorgänger schon im schwarzen Hintergrund verschwunden, und wischte sich mit einem Handtuch die Schweißperlen von der Stirn.
"Das ganze Leben ist eine einzige große Party", dachte er bitter, und schaute durch die Kulisse nach draußen. Noch zwei Stunden. Dann würden die Türsteher die letzten Gäste aus der umgebauten Fabrikhalle werfen, die Tontechniker, Lichtanimateure, DJs und Veranstalter zusammensitzen und über den Abend diskutieren, bis dann endlich jemand als erster aus der Tür ging, um das Bett zu hüten.

Auf dieses Kaffeekränzchen, wie er es nannte, hatte er heute keine Lust. Irgendetwas hatte ihn deprimiert. Das dumpfe Gefühl, versagt zu haben, kroch in ihm hinauf. Er hasste es, wenn ihm jemand mit den Worten "Coole Show, die Du da abgezogen hast", auf die Schulter klopfte. Heute hätte er genau diese Bestätigung gebraucht.
Entmutigt verließ er die Halle, atmete tief durch, als er draußen stand. Er spürte, wie der laue Sommerwind die laute Musik von drinnen in die andere Richtung verwehte. Die heißen Schweißperlen auf seiner immer roten Haut verwandelten sich in kleine Kaltwasserbäche, sie sich ihren Weg bis zu seinem Kinn suchten.

Langsam schlurfte er in Richtung Haltestelle, wo er den Nachtbus nach Hause nehmen konnte. Den Zweiminutenweg verbrachte er damit, die aufkommenden Tränen, die ihm im Hals steckten, zu unterdrücken. Er schluckte sie hinunter. Die Beleuchtung der Werbetafel an der Seite des Wartehäuschens war ausgefallen. Er stand in fast absoluter Dunkelheit.

Er raschelte mit einer Schachtel Zigaretten, fischte mit seinen schlanken Fingern geschickt einen Glimmstängel heraus.
Zack! Das Feuerzeug flackerte auf. Geblendet durch die Flamme sah er nichts außerdem kleinen Schein, der seine Strahlen wie Arme in alle Richtungen ausstreckte.

Nur die Frau, die sich unbemerkt genähert hatte, sah einen Augenaufschlag lang in sein Gesicht. Dann erlosch die Flamme.
Er war wieder unsichtbar. Nur, wenn er an seiner Zigarette zog, und die Glut an der Spitze wie ein kleiner roter Punkt kurz aufleuchtete, bemerkte man, dass dort jemand stand und wartete.
rk
Druckversion
Artikel vom 3. November 2002


Magazin: Bildung, Panorama, Personen, Politik, Sport, Wissenschaft
Kultur: Filme, Kalender, Literatur, Musik, Charts, Netzwelt, Termine
Gemeinschaft: Forum, Gewinnspiele, Newsleter, Kontakt, Umfragen
Sonstiges: News, Fotos, Themen, C6 Archiv, RSS, Shop, Sitemap, Weihnachten
Rechtliches: Impressum, Haftungsausschluss

© 1998 - 2009 C6 MAGAZIN

Monatsthema
Fotogalerie
Galerie: Acapulco, MexikoAcapulco ist eine im Süden von Mexiko gelegene Küstenstadt direkt am Pazifik. Berühmt ist die Stadt vor allem für seine Klippenspringer. Man findet sie bei den Klippen La Quebrada. Sie springen zu ...
Termine
Deutschlandweit
13.01.Vollmond Januar 2025
29.01.Neumond Januar 2025
12.02.Vollmond Februar 2025
28.02.Neumond Februar 2025
14.03.Vollmond März 2025
29.03.Partielle Sonnenfinsternis
29.03.Neumond März 2025
13.04.Vollmond April 2025
27.04.Neumond April 2025
12.05.Vollmond Mai 2025
27.05.Neumond Mai 2025
Ticket-Shop  |  Weitere Termine