C6 MAGAZIN
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Nachtfahrt

Ich habe die weiten Landstrassen hinter mir gelassen, und biege nun am Autobahndreieck die nächste Ausfahrt rechts ab in Richtung Innenstadt. Nur noch ein paar Meter. Das schmutziggelbe Ortsschild habe ich passiert. Ich drossle mein Tempo, der Wagen wird langsam ruhiger. Vor mir tauchen hohe, graue Gebäude auf, die alle trostlos und heruntergekommen wirken.

© C6 MAGAZIN
Jetzt in der Nacht sind sie dunkel und geben eine harte Silhouette vor den leuchtenden und blinkenden Reklameschildern ab. Ihre faden Augen schauen stumm in die Leere, sie starren mich geradezu an. Müde gähnen sie vor sich hin.
An der roten Ampel stoppe ich, setze den Blinker nach links. Ebenso gut hätte ich ihn nach rechts setzen können, doch das Zeichen für meinen Hintermann, der genau wie ich geduldig auf das Umschalten der Verkehrsampel wartet, bedeutete nicht, dass ich auch nach links fahren wollte.

Während ich wartete, schaltete ich etwas am Radiosender herum, ließ mich schließlich von alten "Pink Floyd"-Songs berieseln und schaute hinaus in die Dunkelheit. Ab und zu, wenn ein vorbeifahrendes Auto seine Vorderlichter in meine Nähe lenkte, huschten die Schatten einiger Hasen, die sich auf der rostig umzäunten Wiese direkt neben der Straße tummelten, an mir vorbei. Lang gezogen und verzerrt nahm ich die Umrisse ihrer pummeligen, zusammengekauerten Körper wahr. Die Tiere hatten sich an den Lärm gewöhnt und scheuten sich nicht, ihre Nasen frech in Richtung der wartenden Wagen zu wenden.
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Als ich meine Augen wieder auf das Armaturenbrett wandte, erhaschte ich einen kurzen Blick in mein Wetter gegerbtes, weich geschnittenes Gesicht. Ein Bisschen pubertär kam ich mir vor, doch mein brauner Vollbart ließ mich männlicher erscheinen. Älter, als ich war. Vielleicht auch etwas klüger, doch denselben Effekt hätte ich mit einer Brille erreichen können.
Ich dachte an Sylvester Stallone, in dessen scharf antrainierten Gesichtszügen der schelmische Blick eines Kindes und die Verspieltheit junger Welpen lagen. Ich dachte an die stahlblauen, eiskalten Augen von Tom Berenger, die ihm das gewisse Etwas verliehen, auf das alle Frauen gleichermaßen sofort anspringen, nächtelang träumen und sich dann abends neben ihrem eigenen Mann im Bett umdrehen, das Licht ausschalten, um nicht in das graue farblose Gesicht ansehen zu müssen.
Ich dachte an mich selbst, als ich den Zündschlüssel geschickt mit einer einfachen Handbewegung umdrehte, und fragte mich, was Lucia eigentlich an mir fand, doch mir fiel im Augenblick nichts Positives über mich selbst ein.

Mit einem leisen Brummen versicherte mir der Motor, dass er startklar war. Den Fuß auf dem Gaspedal, fuhr ich schon langsam an, wartete. Grün. Ich drückte durch, lenkte den Wagen ein. Er schoss wild um die Kurve, ohne ein Stück Bodenhaftung zu verlieren. Sanft legte ich meinen Körper gegen die Fliehkraft, bis die Straße wieder gerade wurde, und ich das Lenkrad nur noch mit leichtem Druck meiner beiden Daumen gerade halten musste.
Wie bunte Blitzgeschosse flogen die grellen Leuchtschriften an mir vorbei, ich beschleunigte auf 160 km/h. Der Mittelstreifen der doppelspurigen Strasse fügte sich vor meinen Augen zu einem Ganzen zusammen, die Unterbrechungen in der Linienführung waren nicht mehr zu sehen. Ich fühlte mich so berauscht wie nach einem Genuss eines Joints, der in der Runde herumgereicht wurde. Ich inhalierte tief. Meine Lungen pumpten sich auf, ich atmete so tief ein, bis ich keine Luft mehr bekam. Ein Hochgefühl von angenehmer Beklemmung durchfuhr meinen breiten Körper, spannte jeden meiner Muskeln an. Ich atmete nicht eher aus, bis mein Brustkorb heftig klopfte, mein Puls stieg, jedes Glied um erfrischenden, duftenden Sauerstoff bettelte. Für diese Momente, in denen man völlig frei im Raum schwebte, wollte ich leben. Das habe ich genau in diesem Augenblick beschlossen, als ich vollkommen clean im Auto saß und sich der stinkende Smog der hohen Schornsteine in meinen Polstern ablegte.

Der Nachtverkehr wurde dichter. Die Dunkelheit lockte nun die Nachtschwärmer auf die Straßen, ich tauchte in ein Lichtermeer von gelben, weißen, roten Scheinwerfern ein, die sich in langen durchbrochenen Streifen den Weg über die Straßen bahnten. Es war, als spielte ich die Hauptrolle in einem Film mit Zeitraffer.
Ich flog geradezu über die hohe, moderne, an feste Stahlseile gehängte Brücke dahin. Unter mir schwammen die Lichtkegel der vor Anker liegenden Schiffe und Tanker auf den seichten Wellen des Flusses und spielten mit dem Wasser. Lucia war eine gute Schwimmerin, sie tauchte elegant kopfüber in den kleinen See, preschte dann unter der Oberfläche mit kräftigen Stößen meterweise nach vorne, und erreichte bei einem Viertel der Strecke elegant wieder auf. Sie bewegte sich wie ein Fisch, spürte die sanfte Strömung in der Tiefe. Ihre nassen Strähnen rahmten ihr weiches Gesicht ein, winzige Wassertropfen verfingen sich wie glänzende, schillernde Perlen in ihren Wimpern. Ihre fast schwarzen Augen blinzelten in die helle Sonne, die hoch am Himmel stand, und den Sonntagnachmittag in warmes Licht hüllte.

Am Ufer dufteten die hoch gewachsenen Gräser, schlanke Bäume reckten ihre Äste in den Himmel. Grillen zirpten, zitronengelbe Schmetterlinge flatterten über die großen Wiesen, surrend ließen sich Bienen auf den Blüten mit dem süßesten Nektar nieder.
Ich bremste hart ab. Die Brücke hatte ich schon gute zehn Minuten hinter mir gelassen, allmählich bewegte ich meinen Wagen ans andere Ende der Stadt. Kurz vor dem Erreichen der weiten Landtrasse, bog ich in ein Stück Wald ein, das etwas versteckt unter dem Laub alter knorriger Eichenbäumen lag. Das Auto holperte den fest getrampelten und von tiefen Furchen durchzogenen Weg entlang. Steine splitterten am Unterboden entlang, Holzstückchen knackten, und irgendwo kletterte ein Eichhörnchen geschickt einen Baum hinauf. Das buschige Ruder bewegte sich im Takt zu seinen hastigen Bewegungen.

Die angenehme Stille, nur durchbrochen von meinem Motorengeräusch, nahm ein jähes Ende, als ich mich dem kleinen, im Landhausstil gehaltenen Gasthaus näherte. Laute Musik und gedämpftes Stimmengewirr drang nach draußen.
Ich parkte neben einem verrosteten, weißen Lada mit zerrissenem Kotflügel und halb blinden Scheiben am Heck. Ich zupfte mir im Halbdunkel ein weißes Haar über der Oberlippe aus. Dann stiefelte ich die paar Meter zur Waldschänke hinüber. Der grobe Kies knirschte unter den Schuhen. Die Kellnerin begrüßte mich mit einem Lächeln, und wies mir meinen Lieblingsplatz im hinteren Teil des Raumes zu. Von hier aus hatte ich einen guten Überblick über alles, was sich abspielte. Die mit dunklem Holz verkleidete Theke, an der einige kräftige Männer standen oder es sich dort auf den hohen Barhockern bequem gemacht hatten, vor ihnen riesige Biergläser die auf bunt bedruckten Deckeln standen.
In der schwarzen Hose und dem dunklem Hemd wirkte ich unnahbar. Ich als Person wirkte reserviert, einigen kam ich sicher arrogant vor, denn ich sprach kaum etwas, nur selten gesellten sich einige Gäste zu mir, um ein Gespräch anzufangen. Und wenn doch mal jemand an meinem Tisch Platz nahm, dann gab er es auch schon bald auf, mich in eine Unterhaltung zu verwickeln, denn ich sagte kaum etwas. Meine Gedanken kreisten um Lucia.
Auf dem Bierglas thronte eine hohe, feste Schaumkrone, Kohlensäure suchte sich seinen Weg nach oben. Überall tanzten kleine Bläschen auf und ab. Einige Minuten lang sah ich mir dieses Schauspiel an, dann strömte mir der Duft des frisch gezapften in die Nase, mein Mund wurde wässrig. Langsam nahm ich den ersten Schluck.


Ab und zu schnappte ich ein paar Wortfetzen der anderen auf. Sie redeten über das Neugebiet, Eheprobleme und die anstehende Fußballweltmeisterschaft. Alles Dinge, die mich wenig interessierten, doch hörte ich gerne zu. Manchmal schlug einer mit der flachen Hand auf einen der Tische. Dann schlug das Bier hohe Wellen, die an einen kleinen Ozean erinnerten. Die Fünfergruppe an der gegenüberliegenden Wand pokerte lauthals um Zigaretten. Heimlich zählte ich mit.
Die frische Kühle des Bieres, das ich mir durch die Kehle spülte, ließ langsam nach. Es machte sich in mir Aufbruchstimmung breit. Fast überstürzt leerte ich das Glas, zahlte. Beim Hinausgehen drehte ich mich nicht mehr um. Als ich die Tür hinter mir schloss, war ich erleichtert. Der Lärm war nur noch halb so laut, der Zigarettenqualm in dem verrauchten Raum wich dem angenehmen Duft einer wolkenlosen Nacht.
Mein Porsche wartete mit der Ungeduld junger Wildpferde darauf, endlich gestartet zu werden. Ich nahm den kürzesten Weg nach Hause, bog in die mit Rosensträuchern umrankte Einfahrt, stellte den Wagen ab, und schlich mich leise nach oben.
Lucia lag friedlich schlafend da, die Arme fest um die Bettdecke geschlungen. Ich legte mich neben sie, und dachte an morgen. Die einsame Autofahrt durch die Nacht, den Gestank der Großstadt und die Karten spielenden Männer.

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Dies hier ist eine stark abgespeckte Version der Kurzgeschichte, die auch etwas verändert wurde. Als Lesefutter zum "so mal durchlesen" jedoch ganz nett.
rk
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Artikel vom 14. Juli 2002

Kommentare über Kurzgeschichte

RK am 05.11.2002:
Georg: Danke für das positive Feedback. :)


Georg am 18.10.2002:
Hey Ramona,

Der Text ist echt spitze. Ich denke, jeder der das liest, findet vielleicht einen kleinen Teil von sich selbst wieder. Solche Texte liebe ich.. Vielleicht liegt das daran, dass ich ähnliche Situationen auch gern erlebe. Man braucht eben desöfteren auch mal Zeit für sich



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