Marcel Reich-Ranicki: "Junge Kritiker riskieren sehr viel"

Der mutige Kritiker müsse damit rechnen, dass er von Verlagen und Autoren geschnitten werde. "Ein Schweizer Kritiker, ein Mitarbeiter der FAZ, sagte mir: `Ich kann über keinen Schweizer Autor eine Kritik schreiben. Nur über tote.´ Warum? `Ich schreibe die Kritik, die wird morgen gedruckt, übermorgen treffe ich ihn in der Straßenbahn. Er wird mir nicht die Hand geben,´", berichtet Reich-Ranicki.

Zudem werde in den deutschen Feuilletons nicht mehr genug auf die Qualität der eigenen Texte geachtet, so Reich-Ranicki: "Jetzt gibt es leitende Redakteure, die sich überhaupt nicht mehr um die Arbeit ihrer Leute kümmern." In seiner Zeit als Literaturchef der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" habe er "die Artikel aufmerksam gelesen und redigiert, immer mit dem Ziel, ein deutliches Urteil herauszuarbeiten." Das werde "heute kaum noch gemacht".

In dem stern-Gespräch äußerte sich Reich-Ranicki auch zum Streit mit dem Publizisten Joachim C. Fest. Die beiden ehemaligen Freunde und FAZ-Kollegen waren aus Anlass des Historikerstreits, vor allem aber wegen Fests Verhältnis zu Hitlers Rüstungsminister Albert Speer heftig aneinander geraten. Reich-Ranicki, ein Überlebender des Warschauer Ghettos, sagte: "Ich habe hierzu das Nötige gesagt. Jetzt ist er dran. Schließlich geht es nicht um eine persönliche Angelegenheit, sondern um das Verhältnis zu Hitler: Und das betrifft doch wohl uns beide." (Original Pressetext)