C6 MAGAZIN
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UMWELT 14.2.2007

Angst und Schrecken in New Orleans

New Orleans, eine Stadt umgeben von Wasser. 1965 erlebte die Metropole des Jazz’ seine bis dahin größte Hurrikankatastrophe. Betsy überschwemmte den Großteil der Stadt. Exakt 40 Jahre später steht die Stadt abermals unter Wasser - dieses Mal bis zu 7,6 Meter. Nach dem Bruch der Dämme trat der Lake Pontchartrain über die Ufer und überschwemmte 80 Prozent der Stadt. 1.800 Menschen kamen durch Hurrikan Katrina im August 2005 ums Leben. Kristin erlebte die Stunden vor der Ankunft des Hurrikanes vor Ort.
Hier sollte Kristin ihr Praktikum antreten. Durch Hurrikan Katrina wurde allerdings der gesamte Stadtteil überflutet
© KRISTIN SCHERZER
Hier sollte Kristin ihr Praktikum antreten. Durch Hurrikan Katrina wurde allerdings der gesamte Stadtteil überflutet
Kristin nimmt einen großen Schluck des schwarzen Gebräus und spürt wie sich der Mund mit dem bitteren Geschmack füllt. Die junge Frau schließt die Augen und atmet tief durch. Der morgendliche Kaffee, den sie in der fast leeren Frühstückshalle zu sich nimmt, scheint sie etwas zu beruhigen. Als sie das koffeinhaltige Getränk zurück auf die Untertasse stellt, merkt sie, wie ihre Hand zittert. Es ist Hauptsaison, doch das riesige Hotel steht fast leer.

Musik liegt in der Luft

Angenehm gleiten die Trompetenklänge in den Gehörgang. Die Studentin schließt die Augen und kann es sogar riechen. Hier liegt Jazz in der Luft. Sichtlich erholt schlendert sie durch die urige Bourbone Street und summt zu Louis Armstrongs Weltsongs "What a wonderful world". Der schwarze Musiker hebt seine goldene Trompete, die die untergehende Sonne reflektiert. Er lehnt sich aus dem Balkon des zweistöckigen Hauses gegen das verschnörkselte Eisengelände und bläst mit seiner ganzen Leidenschaft in das Musikinstrument. Sein Mund formt sich in ein breites Lächeln als er die musikalische Darbietung beendet.

Die 22-Jährige Studentin ist begeistert. New Orleans hat Flair und ist genauso, nein sogar besser, als in den alten Filmen, die in der Stadt im Bundessstaat Lousiana spielen. Kristin ist ein Glückspilz, denn sie bekam ihr viermonatiges Pflichtpraktikum in der Metropole des Jazz’ genehmigt. Ihr lang ersehnter Traum nach einem Auslandsaufenthalt in den Vereinigten Staaten ist endlich Realität geworden.

Schneller als erwartet

Im Internet hatte sie eine Jobausschreibung von einer Medienagentur in New Orleans gelesen. Ohne zu zögern beschloss sie sich zu bewerben. Zu ihrer Überraschung bekam sie schon wenige Tage später von der Firma eine Zusage, dass sie das Praktikum antreten könne. Viele Jahre hat die Studentin gespart um ihren großen Traum zu verwirklichen und nahm dabei auch die zeitaufwändige Beantragung des erforderlichen Visums in Kauf. Kristins reiselustige Familie, ihre Eltern, ihre Tante und ihr Onkel, begleiten sie die ersten zwei Wochen.

Krisensitzung im Hotel. Nur der Portier blieb um die Familie vor dem nahenden Hurrikan zu warnen. Nun heißt es so schnell wie möglich die Stadt verlassen
© KRISTIN SCHERZER
Krisensitzung im Hotel. Nur der Portier blieb um die Familie vor dem nahenden Hurrikan zu warnen. Nun heißt es so schnell wie möglich die Stadt verlassen
Herrlich brennt der dunkle Rum des knallroten, traditionellen Cocktails mit dem bedrohlichen Namen "Hurricane" die Speiseröhre hinunter. Nach langer Suche hat die Familie endlich eine geöffnete Bar in der Bourbone Street gefunden. Kristin hat es sich auf dem wackeligen Stuhl gemütlich gemacht. Im Lokal gibt es nur ein schummriges Licht und die Wände sind mit Plakaten und Fahnen zugehängt. Nicht nur die Bar, sondern ganz New Orleans ist ein Patchwork aus den verschiedensten Kulturen. Insbesondere in der Architektur spiegeln sich die spanischen, französischen, englischen und deutschen Einflüsse wieder. New Orleans ist keine typische moderne amerikanische Stadt. Tradition und Feste werden hier ganz groß geschrieben.

Langsam breitet sich bei der kleinen Reisegruppe die Müdigkeit aus. Mit Hilfe sämtlicher Prospekte vom Tourismuszentrum und einem dicken Reiseführer hat die Familie ihr Sightseeing-Programm für die nächsten Tage aufgestellt. Mit schweren Beinen machen sie sich auf dem Weg zurück ins Hotel.

Merkwürdige Stille

Die Uhr zeigte erst 21 Uhr, doch die aufgeweckte Stadt ist bereits gespenstisch leer. Auf dem Heimweg merkt Kristin, dass vor den meisten Türen Sandsäcke gestapelt und einige Fenster mit Holzplatten zugenagelt sind. "Irgendetwas stimmt hier nicht", murmelt die Studentin noch, doch sie ist von den vielen Eindrücken des Tages zu fertig um sich darüber Gedanken zu machen. Im Hotel fällt sie nur noch ins Bett.

Schwere Verwüstung durch Hurrikan Katrina in New Orleans. 1.800 Menschen kamen ums Leben
© STOCK.XCHNG
Schwere Verwüstung durch Hurrikan Katrina in New Orleans. 1.800 Menschen kamen ums Leben
Kristin wird von den hellen Sonnenstrahlen geweckt. Ein kurzer Blick auf ihre Armbanduhr, verrät ihr, dass es bereits höchste Zeit ist, aufzustehen und etwas zu essen. Im Frühstückssaal angekommen ist nur ein Tisch besetzt und auf diesem sitzen ihre Eltern, ihre Tante und ihr Onkel. Irgendetwas muss vorgefallen sein, denn alle vier sind kreidebleich im Gesicht. Ihre Tante atmet tief durch und legt beschützend ihre Hand auf die Schulter der Studentin. "Morgen soll ein riesiger Hurrikan hier wüten", berichtet sie mit dünner Stimme. Der Portier war der einzige Angestellte, der noch im Hotel blieb und die Familie aufgeklärt hat. In New Orleans herrsche Ausnahmezustand, die meisten Bewohner seien bereits gestern geflüchtet. Der Hotelbedienstete hat der Familie ans Herz gelegt, das Nötigste einzupacken und die Stadt so schnell wie möglich zu verlassen.

Krisensitzung am Frühstückstisch

Zu essen gibt es nichts mehr, aber wahrscheinlich würde sowieso keiner mehr einen Bissen hinunterbringen. Jetzt muss schnell gehandelt werden, denn der Hurrikane nähert sich mit beachtlicher Geschwindigkeit der Stadt. Keiner sagt ein Wort, denn der Schock scheint ihnen die Kehle zugeschnürt zu haben. Kristin nimmt einen großen Schluck von ihrem Kaffe und stellt mit zittriger Hand die Tasse auf den Tisch. Morgen wäre ihr erster Arbeitstag in der Medienagentur, sie will die Stadt nicht verlassen.

Die Menschen mussten flüchten. Viele, vor allem Schwarzamerikaner, fanden Zuflucht im Superdome. Ihr zu Hause wurde jedoch meist zerstört
© STOCK.XCHNG
Die Menschen mussten flüchten. Viele, vor allem Schwarzamerikaner, fanden Zuflucht im Superdome. Ihr zu Hause wurde jedoch meist zerstört
Plötzlich unterbricht die Tante mit ihrem lauten Schluchzen die Stille. Im verzweifelten Gesicht fließen nun zwei Tränenströme die Backen entlang: "Warum nur wir?" Auch den anderen ist zum Heulen zu Mute, doch die Mutter bewahrt in dieser schwierigen Situation einen kühlen Kopf: "Reißt euch zusammen! Jetzt zählt jede Minute! Holen wir unser Sachen und düsen los!" Wie gesteuert stehen Vater, Onkel und Tante auf um die wichtigsten Sachen aus dem Hotelzimmer zu holen. Nur Kristin zögert und bleibt wie versteinert sitzen. Tränen quellen aus ihren Augenrändern. "Komm schon!", drängt ihre Mutter mit einer hektischen Handbewegung und rennt zum Lift. Kristin folgt ihr.

Die Flucht aus dem Krisenherd

Der Weg aus der Stadt führt am riesigen Superdome vorbei. Normalerweise finden in diesem Stadion, das 87.500 Besucher fasst, Footballmatches statt. Jetzt wollen aber deutlich mehr Leute ins geschützte Stadion, denn es ist wahrscheinlich ihre einzige Überlebenschance. In den nächsten Tagen soll der Superdome als Zufluchtsort für die Ärmsten dienen, die es sich nicht leisten können, aus New Orleans zu flüchten. Eine riesige Schlange an Menschen, hauptsächlich Schwarzamerikaner, ist vor dem Stadion angestellt. Kristin wird sich ewig an das Bild erinnern, als sie in das von Angst erfüllte Gesicht der Wartenden blickt.

Ein Bild, welches sie zwei Tage später in einem Motelzimmer in Montgomery am TV-Bildschirm in den Nachrichten verfolgt. Der Familie ist es gelungen, den Krisenherd mit dem Mietauto rechtzeitig zu verlassen.

Ein Jahr danach…

Kristin nippt an ihrem Kaffee und lauscht den angenehmen Klängen von Louis Armstrong. Mehr als ein Jahr nach dem tragischen Vorfall blickt sie nachdenklich auf ein Foto, dass sie einen Tag vor dem Ausbruch von Hurrican Katrina schoss. Sie posierte mit ihrer Familie vor ihrer Praktikumsfirma, die sie noch besuchte. Ihren Chef hat sie nie persönlich kennengelernt und auch eine Mail blieb unbeantwortet. Das Unternehmen lag in jenem Teil von New Orleans, der komplett vom Wasser überflutet wurde. "Hoffentlich zählt er nicht zu einem der Opfer, die durch Katrina ums Leben kamen", sagt Kristin.

Die Studentin denkt oft an die ereignisreichen Tage in den Vereinigten Staaten zurück. Sie erinnert sich an den zufriedenen Trompetenspieler, der einen Tag vor Untergang der Stadt "What a wonderful world" spielte. Kristin nahm damals eine wichtige Lebensweisheit mit: "Man sollte jeden Tag genießen, denn schon morgen kann alles anders sein."
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Artikel vom 14. Februar 2007

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