C6 MAGAZIN
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OBDACHLOSIGKEIT 14.5.2006

Hinter den Kulissen des "Strassenfegers"

„Jetzt bloß nicht hinschauen!“, denke ich, als plötzlich ein junger Mann die U- Bahn betritt. Ich höre, wie er tief durchatmet und dann sagt „Entschuldigen Sie bitte die Störung…“. Er sieht müde aus und er spielt seine Leier ab, hofft darauf, dass ihm einer der Fahrgäste eine Zeitung abkauft oder zumindest eine kleine Spende dabei raus springt. Ich beobachte die anderen Fahrgäste. Viele schauen, wie ich, verlegen weg.
Der Hof des Strassenfeger mit intergriertem Trödelshop.
© BRIGITA BOSOTIN
Der Hof des Strassenfeger mit intergriertem Trödelshop.
Die Not der anderen verursacht ein unglaublich schlechtes Gewissen. Manche versuchen die Ansprache des Verkäufers zu ignorieren, schließlich wollen sie bei der täglichen Lektüre der Tageszeitung nicht gestört werden. Einige Stationen weiter, fällt ein offenbar zu gedröhnter Obdachloser auf: Er liegt quer auf der Sitzbank und schläft. Einige Leute starren ihn an und schütteln den Kopf. Man kann den skeptischen und abweisenden Gesichtern der U-Bahnfahrgäste ansehen, was sie jetzt gerade denken: "Kann man sich denn sicher sein, dass man mit seinen Spenden nicht auch die Sucht solcher Menschen mitfinanziert?" Und jetzt, wo der Euro nicht mehr so locker sitzt, wie noch vor wenigen Jahren die Mark, zögert man eher, einfach etwas zu verschenken. Ich bin mit meiner Freundin am U-Bahnhof Prenzlauer Allee angekommen. Wir steigen gemeinsam aus und machen uns auf den Weg zur Strassenfeger Redaktion.

Hinter den Kulissen

Am Vereinsgebäude des Strassenfegers angekommen, durchquert man erstmal einen Hinterhof. Dahinter folgt ein baustellenartiger Raum, der sehr unruhig auf einen wirkt. Überall Gerümpel. Der Geruch von frischer Farbe steigt einem in die Nase. Werkstoffe und Rigips-Platten stehen rum und warten auf ihre Verarbeitung. Die Umgebung scheint wenig einladend, doch viele Leute sitzen im "Kaffe-Bankrott" und schlürfen ihren täglichen Kaffee. In der kleinen, engen Küche bereitet der Koch das Essen vor, das günstig an die Obdachlosen verkauft wird. Das freundlich gelb gestrichene Café ist der soziale Treffpunkt für die Obdachlosen. Dort tauschen sie sich aus und holen sich ihre Zeitung ab, die sie dann im Straßenverkauf an Interessierte veräußern. Im Vorraum an einem weißen länglichen Tisch, sitzt Dr. Stefan Schneider. In der einen Hand eine Tasse schwarzen Kaffee und in der anderen eine glimmende Zigarette.

Dr. Stefan Schneider ist Vorsitzender des mob e. V. und Herausgeber des Strassefegers.
© BRIGITA BOSOTIN
Dr. Stefan Schneider ist Vorsitzender des mob e. V. und Herausgeber des Strassefegers.
Als Herausgeber des Strassenfegers und Diplom Sozialpädagoge ist Stefan Schneider schon seit fast 20 Jahren im Bereich der Obdachlosenarbeit tätig. Mit einem Blick erfasst er das Wesen einer Person sofort, ihm entgeht nichts. Grenzen sind ihm zwar unlieb, müssen aber sein, meint er auf einmal im Gespräch: "Kein Alkohol, keine Drogen und keine Gewalt. Das ist das Mindestmaß an Regeln, das wir fordern." Er erkennt genau, wer aus seinem Leben etwas machen möchte, ausnutzen lässt er sich nicht. "Wenn jemand sein Bier auf den Tisch stellt, geht er nach Hause." Zwei Kollegen laufen am Tisch vorbei und stimmen ihm grüßend zu.

Unabhängigkeit gewährleisten

Insgesamt beträgt die Auflage des Strassenfegers knapp 23.000 Exemplare. Um den Obdachlosen eine gewisse Unabhängigkeit zu bieten, wird der "Strassenfeger" nur mit Vorkasse, also gegen 40 Cent pro Exemplar an die Verkäufer ausgeben. "Das hat was mit der Situation der Zeitungsverkäufer zu tun. Die Obdachlosen bekämen ein schlechtes Gewissen, wenn sie die Zeitungen, die man ihnen bereits vorher überlassen hat, nicht alle verkaufen könnten. Das wäre kontraproduktiv", entgegnet er. Die sozialen Hintergründe der Menschen, die zum "Strassenfeger" kommen, sind Schneider gut bekannt. Dennoch kann er keine Einzelbetreuung leisten. "Das will und kann ich nicht, ich bin eher geschäftsführend tätig", sagt er mit einem bestimmenden Unterton.

Einer der Räume, der Notübernachtung des Vereins.
© BRIGITA BOSOTIN
Einer der Räume, der Notübernachtung des Vereins.
"Hilfe bekommt hier jeder", dabei deutet er auf die Notunterküfte. Die einfach eingerichteten und fast kasernenartig anmutenden Zimmer wirken nüchtern und kahl. Hier können Menschen in Not vorübergehend Unterschlupf finden. "Die Notübernachtenden zahlen auch einen Eigenanteil. Wenn die Leute die Räume nutzen, müssen sie sich auch beteiligen." Im gleichen Moment erkundigt sich Stefan Schneider danach, wie es der einen Bewohnerin geht. "Manche fühlen sich nach acht Wochen beinahe wie zu Hause und meinen, eine Bleibe gefunden zu haben. Aber das haben wir vorher geklärt, dass die Unterkunft keine Dauerlösung ist, sondern Menschen in akuten Notsituationen zur Verfügung stehen soll. In den drei Monaten muss man sich dann um was Neues kümmern. Nach einer bestimmten Zeit muss jeder gehen", drückt er mitfühlend aus.

Obdachlosigkeit ist eine Grauzone

Studien zum Thema Obdachlosigkeit grenzen die Betroffenen (345.000) in Deutschland stark ein. Ihre Chancen aus der Situation raus zu kommen, sinken nach dem ersten halben Jahr stetig. "Was Obdachlosigkeit ist, müssen wir erst definieren. Das ist nicht so "schwarz-weiß", sondern Obdachlosigkeit verläuft im Prinzip wie eine große Kurve!" Er lehnte sich in seinen Stuhl zurück und schaut nachdenklich. "Einige haben finanzielle Probleme, leben von Sozialhilfe, andere haben keinen Mietvertrag oder leiden unter einer Sucht. Und die Leute, die völlig auf der Straße sind, sind nur die Spitze des Eisbergs und dann gibt es die Hardcore Leute, die wirklich verlumpt, verdreckt und alkoholisiert an der Straße liegen. Die machen natürlich das Klischee aus", er greift nach der Zigarette und nimmt einen Zug.

Sucht finanzieren: Nein, danke!

Viele Leute verweigern den Obdachlosen ihre Unterstützung mit dem Argument, ihnen nicht die Süchte finanzieren zu wollen. Darauf reagiert Schneider gereizt, fast schon wütend. "Das ist eine ganz unehrliche Denkweise! Es ist nicht in Ordnung Unterstützung an ein bestimmtes Verhalten zu binden. Man kommt nicht weiter, wenn man von außen reglementiert. Eigenverantwortung muss von Innen kommen!" Er spricht schnell, und wenn er sein Gegenüber mit seinen blaugrauen Augen, die hinter einer roten Brille verborgen liegen, fixiert, merkt man, dass er diese Argumente nicht zum ersten Mal gehört hat. Noch bevor er seine Worte beenden kann, wird er abermals unterbrochen. Der Maler fragt ihn nach den Farben für die Wand und ob er das Fahrrad, das an der Wand lehnt, entfernen soll.

Von der Unterbrechung unbeirrt, fährt er mit erhobener Stimme fort: "Als Macher nehmen wir bewusst in Kauf, dass sich Leute, mit dem Erlös des Verkaufs des Strassenfegers, tot drücken und tot saufen könnten, aber die Hoffnung ist, dass die Leute ihre Chance nutzen, um aus dieser Situation raus zu kommen", mittendrin macht er eine korrigierende Bewegung, um seine runde, rote Brille wieder in Position zu bringen. Natürlich gibt es auch Erfolgsstorys, von denen weiß Schneider auch zu berichten. Einige von ihnen sitzen sogar hier im Café. Für die wenigen lohnt sich die ganze Arbeit – sie leben nicht mehr auf der Straße, sondern sind auf dem Weg zurück in ein Leben, das durch die erhaltene Unterstützung für sie wieder kalkulierbarer geworden ist.
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Artikel vom 14. Mai 2006

Weiterführende Links
- mob e.V.: http://www.strassenfeger-berlin.de

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