C6 MAGAZIN
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ESSSTöRUNGEN 20.3.2006

Einmal Magersucht und zurück

Wie es angefangen hat? Ganz ehrlich: ich weiß es nicht mehr. Es ist auch schon so lange her...13 Jahre sind es jetzt. Ich bin zehn. Klein. Ein bisschen pummelig. Nicht dick, nur eben ein bisschen pummelig hier und da. Ein Kind. Ein innerlich sehr reifes Kind. Ein wahnsinnig ehrgeiziges Kind mit einer wahnsinnig ehrgeizigen Mutter, die sich irgendwann einmal in den Kopf gesetzt hat, ihre Erstgeborene sei so etwas wie ein Wunderkind.

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Zweisprachig und zwischen zwei Familien aufgewachsen - Mama hier, Papa da. Zwei halbe Eltern, zwei Halbgeschwister. Heutzutage nichts Untypisches. Ein bisschen hat mich diese Pummeligkeit schon gestört, aber andererseits habe ich auch immer gern gegessen. Aber irgendwann, da esse ich plötzlich nicht mehr so gern. Da fange ich an zu sagen, ich hätte keinen Hunger, hätte schon etwas gegessen, und während der Rest der Familie ohne mich am Abendbrottisch sitzt, mache ich in meinem Zimmer Kniebeugen und Situps. Dann fange ich an, mein Pausenfrühstück in der Grundschule in den Mülleimer zu werfen. In einer Tüte, damit es keiner sieht, oder aber heimlich ins Klo. Zu hause das Gleiche. Und ich fahre Fahrrad. Irgendwann jeden Tag 15 Kilometer. Und zusätzlich noch ca. 600 Kniebeugen.

Mein Feind, das Essen

Die Kalorientabelle - meine persönliche Bibel. Meine Eltern brauchen ein paar Monate, um zu verstehen, was da mit mir passiert - zu lange. Ich kann nicht mehr aufhören. Und meine Beine zittern beim normalen Gehen von den vielen Kniebeugen. Jede Mahlzeit wird zum Kampf zwischen mir und meinen Eltern und zur Qual für alle Anwesenden, jeder, der mich zum Essen bewegen oder gar zwingen will, ist mein persönlicher Feind. Das ist mein Körper, diese hässliche, fette Hülle, und wenn ich sie endlich unter Kontrolle habe, dann hat mich niemand daran zu hindern!


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In der Schule kann ich mich nicht mehr so gut konzentrieren, oh Gott, eine 3+ in Mathe! Ich sitze fast nur noch apathisch herum. Und zu hause die Hölle auf Erden...Zuerst wöchentliche Sitzungen bei einem Psychologen. Den ich nicht leiden kann und der mich einen Monat lang betreut, einen Monat, den ich, in ein normales Kinderkrankenhauszimmer eingeschlossen, fast allein verbringe. Mein elfter Geburtstag, allein, im Krankhenhaus. Essen, das im Mülleimer landet. Zwei Liter Wasser noch vor Sonnenaufgang trinken, um das nötige Gewicht auf die Wage zu bringen. Heimliche Anrufe. Papa, bitte, hohl mich hier weg, ich kann nicht mehr! Ein weinender Papa, der mir sagt, das kann er nicht tun. Nach einem Monat immer noch 24,5 Kilo, sie haben mich um vier Uhr morgens gewogen, bevor ich die zwei Liter trinken konnte. Zu wenig. Das geht so nicht.

Endstation Psychatrie

Meine Eltern liefern mich in eine anthroposophische Kinderpsychiatrie ein. Beim ersten Psychologengespräch werde ich gefragt Was würdest du tun, wenn sich dein Kind zu Tode hungert? Es in Ruhe lassen, sage ich, aber es klingt wenig überzeugt. Ich muss bleiben. Jedes Wochenende zu hause. Ein Zimmer mit einem anderen Mädchen. Auch so Eine wie ich, eine "Magersüchtige". Lange Gespräche jede Nacht vor dem Einschlafen. Nein, bitte, tu das nicht, wenn eine von uns im Bad steht und - den Schal um den Hals zuzieht. Anfangs Essen auf einem Tablett, alles genau berechnet für 200 Gramm mehr pro Woche. Essen zusammen mit den Betreuern und den anderen Kindern. "Verrückte" in unseren Augen, mit Schulangst oder Waschzwang.

Beim Spielen im Wald renne ich extra viel rum, oh Gott, dieses Tablettessen, so viel! Und so unglaublich viel Butter - Fett! Mein Hauptfeind! Am Wochenende die üblichen Kämpfe zu hause, aber auch nein, bitte, bringt mich nicht wieder weg! Unendlich viele Tränen... Trotz wöchentlicher Gespräche mit meiner Psychologin, Musiktherapie, Eurythmie...nach zwei Monaten nicht genug auf der Waage. Sie geben mir Sondennahrung, warm, zum Löffeln. Mir wird schon schlecht, wenn ich das Zeug rieche, dieser süßlich-ranzige Geruch, aber ich esse es trotzdem, weil sonst...ein Schlauch durch die Nase in den Magen, die Beispiele dafür gibt es nebenan auf der Jugendstation. Na gut, also zwei Wochen lang drinnen bleiben und Kotzbrühe essen.

Baustelle "Ich"

Alle drei Wochen Familientherapie mit meinen Eltern. Kämpfe. Geschrei. Noch mehr Tränen. Dann, weil ich es so will, nimmt auch mein Papa an diesen Gesprächen teil. Wir rollen alles auf. Die hohen Erwartungen meiner Mutter an mich. Die Trennung meiner Eltern. Die neuen Partner. Ihre Probleme miteinander, jahrelang "über mich" ausgetragen. Unsere Familie, eine riesige, unüberschaubare Baustelle, an der in der Vergangenheit gegraben wird, um herauszufinden, wer was falsch gemacht hat. Macht euren Scheiß doch allein! brülle ich und renne aus dem Raum. Wir stellen Regeln auf. Eltern sind Eltern, Erwachsene, haben ihre Probleme untereinander auszutragen, und Kinder sind Kinder, sollen ein Leben als Kinder führen können, nicht mit den Problemen von Erwachsenen belastet werden, aber auch nicht die Erwachsenen gegeneinander ausspielen. Gespräche über Monate.

Dann, irgendwann, die Wende. Frühling. Ich bekomme langsam wieder Spaß am Leben, am Essen. Es geht langsam bergauf. Das Licht am Ende des Tunnels, das mein Papa so oft beschworen hat - ich sehe es. Die Waage zeigt stetig mehr Gewicht an, und ich nehme es zur Kenntnis, ohne Panik zu bekommen. Mehr Gewicht, das bedeutet, ich darf bald raus! Nach Hause...

Rückkehr in den Alltag

Als ich endlich wieder nach hause darf, mit 32 Kilo, bin ich insgesamt 7 Monate weg gewesen. Sieben Monate, in denen meine alten Freunde die Schule gewechselt haben, neue Kinder kennen gelernt haben. Alle starren mich an, als ich in die Klasse komme. Alle wissen es. Alle. Das halbe Dorf weiß es. Und manchmal lässt auch mal jemand eine blöde Bemerkung fallen. "Magersucht! Ääääh!", sagt einer und tut so, als würde er sich zum Kotzen den Finger in den Hals stecken. Soll ich ihm sagen, dass ich nie gekotzt habe? Es stimmt, aber ich schlucke die Tränen herunter und sage einfach gar nichts. Jede Woche gehe ich zu einer Psychologin, eine meiner Wahl. Ab und zu habe ich kleinere Rückfälle, wenn es mir besonders schlecht geht, fange ich wieder an, vor dem Spiegel meine Bauch zu betrachten und weniger zu essen. Meine Mutter schlägt beim leisesten "Nicht so viel!" Alarm. Wir streiten uns immer noch oft ums Essen, aber der Streit wird seltener. Mit vierzehn gehe ich zum letzten Mal zu meiner Psychologin. Ich bin jetzt stabil genug. Nach vier Jahren.

Gesund!

Seit wann ich wieder ganz normal esse? Keine Ahnung. Vielleicht, seitdem ich 17 bin. Mein Körper? Das hat lange gedauert, ihn "schön" zu finden. So, wie er ist. Und die Magersucht? Ein Hilferuf. Ich kann nicht mehr. Alles entgleitet mir - aber seht her! Eines kontrolliere ich, meinen Körper, ich richte ihn zugrunde! Seht ihr das?! Sie haben es gesehen. Zum Glück.
Alba Gentileschi
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Artikel vom 20. März 2006

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