C6 MAGAZIN
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MARKT 12.11.2005

"Wir helfen uns gegenseitig!"

Semra ist Türkin. Seit 34 Jahren lebt sie in Deutschland - ihr Zuhause bleibt die Türkei. Das Personenporträt einer kleinen Marktfrau mit einer großen Geschichte…
Klein aber oho: Semras Sträuße gehen weg wie warme Semmeln
© LUISE SAMMANN
Klein aber oho: Semras Sträuße gehen weg wie warme Semmeln
"Ich sprechen nur wenig Deutsch, nicht gut, wenig erzählen..." Schüchtern, fast ein bisschen traurig, guckt die kleine Frau mit dem bunten Kopftuch auf ihre Blumensträuße. Die Hände tief in den Taschen ihres dunklen Wintermantels vergraben steht sie da, wiegt sich leicht hin und her, lächelt. sieben bunte Sträuße stehen vor ihr auf dem Boden, zehn weitere hat sie schon verkauft in den letzten zwei Stunden. Plötzlich kommt sie ins Schwärmen, die kleinen braunen Augen hinter den runden Brillengläsern leuchten auf. "Alles aus meinem Garten, alles selbst gemacht. Immer arbeiten, alles selber machen." Stolz zeigt sie auf eine Handvoll Hagebutten. Über ein Jahr lässt sie die Früchte trocknen bevor sie zwischen weißen Rosen und gelben Gerberas ihren Platz finden und hier für drei Euro pro Strauß Verkauft werden.

Jeden Samstag steht die Sechzigjährige am Rand von Münsters Wochenmarkt. Fern ab vom Gedränge der Marktbesucher und dem Geschrei der Verkäufer sitzt sie auf einer kleinen Bank neben einem großen Gemüsestand. Viele der Vorbeikommenden kennen und grüßen sie. Mit zufriedener Stimme erzählt sie dann kurz, um wen es sich handelt. Ein persischer Doktor, eine Apothekerin, eine Kollegin von früher. Früher, das war bis vor vier Jahren, als Semra noch in der Mensa Essen an Horden von hungrigen Studenten austeilte. Eine gute Arbeit war das, sie hat ihr eigenes Geld verdient, acht Stunden am Tag. "Heute ist alles schwerer. Wenig Arbeit, viele Menschen" sagt sie nachdenklich. Warum sie die Türkei verlassen hat? Semra überlegt lange, scheint die Antwort genau abzuwägen, möglichst klar zu formulieren. "In der Türkei sehr, sehr arm. Wir dachten, hier in Deutschland alles schöner, alles einfacher." Wir dachten...

Hinter diesen Marktbesuchern sitzt Semra auf einer kleinen Bank und bietet ihre Sträuße an
© LUISE SAMMANN
Hinter diesen Marktbesuchern sitzt Semra auf einer kleinen Bank und bietet ihre Sträuße an
Seit 34 Jahren lebt sie mit ihrem Mann in Münster. Zunächst ohne Papiere, ohne Arbeit und ohne Geld. Gewohnt haben sie mit ihren drei Kindern in einer Zweizimmerwohnung mit kleiner Küche. Als ihr Mann dann bei einer jugoslawischen Putzfirma Anstellung fand, blieb sie zuhause, kümmerte sich um die Kinder. Die sind heute selber erwachsen, sprechen deutsch und haben Arbeit. Semras Augen leuchten wieder. Alle zusammen unterstützen sie jetzt die in der Türkei gebliebenen Angehörigen. Jeden Cent, den sie mit ihren Sträußen verdient, schickt sie ihnen. 250€ im Monat. Vor zwei Jahren war sie das letzte Mal selbst dort, hat ihre kranke Schwester, die Cousins und Cousinen, die Nichten und Neffen in der Nähe von Ismir besucht. "Damals war ich jung, das hier alles schwarz" lacht sie und lüftet ihr geblümtes Kopftuch ein kleines bisschen, um mir ihre grauen Haare zu zeigen. Als die Kinder älter wurden, begann sie dann selbst zu arbeiten. Irgendwann bekam sie Rückenschmerzen, immer öfter und stärker. "Bandscheibenvorfall!" Das Wort kommt ihr erstaunlich leicht über die Lippen.

Ihr ältester Sohn brachte sie dann auf die Idee mit den Sträußen. Standmiete muss sie nicht zahlen. Sie hat ein Abkommen mit dem Besitzer des Gemüsehandels neben ihr geschlossen. Sie hilft ihm mittags beim Abbau seines Standes, bringt den Müll zum Container und stapelt Kisten. Im Gegenzug darf sie ihre Sträuße auf einem Quadratmeter seiner Standfläche aufbauen. "Wir helfen uns gegenseitig.", sagt sie und winkt dem älteren Herrn mit der grünen Schürze fröhlich zu. Der schenkt ihr auch manchmal einen Apfel oder eine Mandarine. Bis vor kurzem war Ramadan, da durfte sie tagsüber nichts essen und musste immer ablehnen. "Im Ramadan ist alles anstrengend. Ich sehr krank, Fieber. Aber kein Wasser, nichts essen. Erst wenn die Sonne untergeht. Dann wenig Schlaf. Aber Gott sagt und ich mache, das ist gut." Semra macht eine kurze Pause, sucht nach den richtigen Worten. "Alle Menschen haben einen Gott. Alle Menschen gleich, alle zusammen!" Ob sie sich über den EU-Beitritt der Türkei freuen würde? Semra nickt begeistert. "Gut für Türkei, gut für Deutschland. Viele Deutsche machen Urlaub in Türkei. Türken kommen hierher, Deutsche gehen nach Türkei." Sie lacht begeistert, legt mir ihre warme, von jahrelanger Arbeit gezeichnete Hand auf die Schulter. "Reden ist gut. Wichtig, sehr wichtig! Danke, Dankeschön!"
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Artikel vom 12. November 2005

Kommentare über Markt

Schmandi am 05.01.2006:
so könnte Lokaljournalismus noch richtig spannend werden. Wen interessieren Schützenvereine, wenn man auch so interessante Geschichten finden kann.


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