C6 MAGAZIN
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SARAJEVO 1.11.2005

Idylle zwischen Einschusslöchern

Es ist fast zehn Jahre her, dass der Krieg in Bosnien-Herzegowina offiziell beendet wurde. Langsam werden die Spuren der Kämpfe in der Hauptstadt des Landes beseitigt. Die Menschen kehren zurück in ihre Heimat, es scheint Frieden einzukehren und trotzdem bleibt Sarajevo eine Stadt mit hohem Spannungspotenzial.
Das Hostel der "Turisticka Agencija Ljubicia"
© ANDREAS AUDRETSCH
Das Hostel der "Turisticka Agencija Ljubicia"
Es ist ein trockener, heißer Tag im August. Der Bus, in den Dan und Steven am Morgen in Belgrad gestiegen sind, hat sich mehr als sieben Stunden über Feldwege und kleine Teerstraßen durch die Berge gekämpft. Nun biegt er auf einen kleinen, durch Metallpfosten begrenzten Platz ein. Große Schiebetore schließen sich hinter ihm wieder. Der Fahrer bremst und wirbelt eine große Staubwolke auf, die sich auch, als Dan und Steven ausgestiegen sind, noch nicht wieder gelegt hat.

Eigentlich hatten sich die zwei "Backpacker" hier mit Monica verabredet, doch niemand scheint sie zu erwarten. Auch sieht dieser Bahnhof nicht wirklich wie der einer Landeshauptstadt aus. Ein flaches Gebäude, Toiletten, ein kleiner Laden und ein Informationsbüro – mehr nicht. Keine Züge, keine Wartehalle, kein Bankautomat. Der Busfahrer versichert jedoch immer wieder "Sarajevo, yes Sarajevo". Dan und Steven schultern ihre Rucksäcke, winken ein Taxi heran und bitten den Fahrer, sie zum Hostel der "Turisticka Agencija Ljubicia" zu bringen.

Der zentrale Platz Sarajevos heißt Ba?èar?ija Platz. Oft wird er aber einfach der Tauben Platz genannt.
© ANDREAS AUDRETSCH
Der zentrale Platz Sarajevos heißt Ba?èar?ija Platz. Oft wird er aber einfach der Tauben Platz genannt.
Monica ist an diesem Tag wie jeden morgen zur Arbeit gegangen. Seit einigen Jahren ist sie bei einer Agentur für Jugendhotels beschäftigt. Mit dem Auftrag, zwei Gäste vom Bahnhof abzuholen ist sie losgeschickt worden und seit fast zwei Stunden steht sie nun vor der Wartehalle und hält Ausschau nach "zwei Jungs mit den Namen Dan und Steven", wie es ihr auf einen kleinen Notizzettel geschrieben worden ist. Was ihr niemand gesagt hat: Der Bus mit den beiden kommt aus Belgrad, aus Serbien – und serbische Busse halten nicht etwa am eigentlichen Hauptbahnhof Sarajevos. Für serbische Busse gibt es einen eigenen kleinen Bahnhof am Rande der Stadt. Dort, wo die Viertel der Serben zu finden sind.

Monica flucht. Die Gäste seien schon im Hostel angekommen, ist ihr gerade per Handy mitgeteilt worden. Ein paar mal war es nun schon passiert, dass sie am falschen Bahnhof gewartet hatte. Eigentlich hat sie ja nichts gegen die Serben, aber "dass die sich auch da draußen so zusammenrotten müssen. Die können ja machen was sie wollen," meint sie, "aber die Busse könnten doch einfach alle an einem Bahnhof halten". Es klingt keine Boshaftigkeit oder wirkliche Abneigung mit, wenn Monica diese Dinge sagt. Vielmehr ist es eine sehr starke Verbundenheit, die sie zu "ihren Leuten", den Bosniern fühlt. "Wir sind doch auch nicht so", sagt sie immer wieder.

Auf den Bergen um die Stadt finden sich große Felder mit weißen Steinkreuzen. Die meisten stammen aus der Zeit zwischen 1994 und 1998.
© ANDREAS AUDRETSCH
Auf den Bergen um die Stadt finden sich große Felder mit weißen Steinkreuzen. Die meisten stammen aus der Zeit zwischen 1994 und 1998.
Neben Bosniern und Serben leben in Sarajevo, als dritte große Bevölkerungsgruppe, die Kroaten. Auf ganz Bosnien-Herzegowina bezogen machen sie 17 Prozent der Menschen aus. Die Serben sind mit 31 Prozent vertreten und die Bosnier kommen auf 44 Prozent. Es ist ruhig geworden in Sarajevo, seit 1996 der Bürgerkrieg offiziell beendet wurde. Heute leben die Bevölkerungsgruppen friedlich miteinander. "Sarajevo ist absolut sicher", sagt Monica immer wieder. Sie würde auch bei Nacht alleine auf die Straße gehen, betont sie.

Hohes Spannungspotential in der Bevölkerung

Trotzdem bleibt das Spannungspotential hoch. Klein-Jerusalem wird Sarajevo immer wieder genannt. Denn vier Religionen treffen hier unmittelbar aufeinander. Für die orthodoxen Serben ist die Stadt der Sitz einer ihrer Metropoliten, für die Kroaten ist sie der Sitz eines Erzbischofs der römisch-katholischen Kirche und für die Bosnier der Sitz des Oberhaupts der bosnisch-herzegowinischen Muslime. Im Zentrum Sarajevos finden sich im Umkreis von weniger als 250 m eine Moschee, eine orthodoxe Kathedrale, eine katholische Kirche und eine Synagoge der jüdischen Bevölkerung. Katholiken, orthodoxe Christen, Moslems und Juden mischen sich in der Innenstadt auf der Ferhadija, der Haupteinkaufsstraße Sarajevos.

Dan und Steven sind in ihrem kleinen Zimmer angekommen. Das Hostel in dem man sie untergebracht hat liegt direkt im Zentrum der Stadt. Auf der Fahrt mit dem Taxi sind sie über die sogenannte "Sniper-Alley" gekommen. Die Straße, die heute "Zmaja od Bosne" heißt, erhielt diesen Namen während des Kriegs, als serbische Scharfschützen von den Bergen um die Stadt aus, Fußgänger ins Visier nahmen und die Straße teilweise unpassierbar machten. Die Häuser in den äußeren Bezirken der Stadt sind bis heute schwer beschädigt.

Die meisten Hausfronten sind übersäht mit Einschusslöchern. Teilweise hat man sie notdürftig ausgespachtelt, oft hat man noch nicht die Zeit und das Geld gefunden, um etwas auszubessern. Je näher man dem Zentrum Sarajevos kommt, desto mehr ist aufgebaut, desto liebevoller sind die kleinen Gässchen hergerichtet. Mit viel Sorgfalt sind die Brücken über die Miljacka, den Fluss, der sich quer durch die Stadt zieht wieder aufgebaut. Nur selten sieht man hier noch Einschusslöcher, doch immer wieder sind auch im Zentrum die Arbeiten noch nicht abgeschlossen. So ist im Hostel von Dan und Steven noch ein riesiger Krater in der Hauswand zu sehen.

Eigentlich hatten sich die zwei "Backpacker" vorgenommen vorsichtig zu sein. Die Gegend um Sarajevo sei vermint, heißt es im Reiseführer, auch eingefallene Häuser seien gefährlich und noch immer solle der Nationalismus einiger Menschen extrem ausgeprägt sein. Doch Monica hat immer wieder versichert alles sei absolut sicher und so sind sie doch noch am ersten Abend zu einem Spaziergang durch die Stadt aufgebrochen. Sie sind in den kleinen Gässchen die Berge hochgegangen, bis sie auf einer Anhöhe ein riesiges Feld mit weißen Steinkreuzen gefunden haben. Dann sind sie ins Zentrum zurückgekehrt und in den Gässchen zwischen den vier verschiedenen Gotteshäusern spazieren gegangen. Nun haben sie sich auf einer kleinen Bank unweit der Gazi-Husrevbey Moschee niedergelassen.

Direkt hinter der Moschee stehen ein Soldat und eine Soldatin. Sie umarmen sich immer wieder und scheinen den Sommerabend in vollen Zügen zu genießen. Ganz sicher sind sich Dan und Steven nicht, ob es vielleicht zu dreist ist, einfach zu fragen, was die beiden hier in Sarajevo tun. Die Neugier siegt jedoch bald und so sprechen sie die Soldaten an. Thomas und Melanie heißen sie, sie sind aus Deutschland und nun seit zwei Monaten in Sarajevo.

Nein, von der Nato seien sie nicht direkt, sagt Melanie, die Verantwortung in Bosnien-Herzegowina habe jetzt die EU. Aber irgendwie gehöre doch eh alles zusammen, meint Thomas. So richtig gekämpft haben die beiden noch nie. Eigentlich sei alles ruhig, sagen sie. "Aber wenn eine Horde von Serben doch mal mit Molotowcocktails auf eine Moschee zumarschiert, dann müssen wir da sein", ergänzt Thomas.

Schwierig sei auch die Übergabe an die Polizei des Landes, an der gerade gearbeitet wird. Schon in Sarajevo gebe es verschiedene Einheiten, die nicht wirklich zusammen arbeiteten, und Verbrecher müssten teilweise nur von einem Stadtteil in den nächsten, um der Polizei zu entkommen, erzählt Melanie. Sich selbst bezeichnen die beiden als "Pazifisten in Uniform". Wären die Soldaten nicht mehr hier, sagen sie, dann könnte innerhalb von Tagen das Chaos wieder ausbrechen.

Es ist eine Aufbruchsstimmung, die einem überall in Sarajevo begegnet. Die Ergebnisse der EU- Aufbauprogramme sind in der ganzen Stadt zu sehen. Die Spuren des Kriegs, die Einschusslöcher und die zerstörten Häuser werden langsam beseitigt. Man merkt deutlich, dass noch eine Menge Arbeit bevorsteht. Vieles ist allerdings auch schon getan und neben den heimkehrenden Bosniern, Serben und Kroaten, von denen viele während des Kriegs nach Deutschland ausgewandert waren, finden sich auch die ersten Reisenden wieder in Sarajevo ein. Die Normalität kehrt zurück, so hat man das Gefühl.

Dan und Steven sind gerade erst in Sarajevo angekommen, sie werden auf jeden Fall noch einige Zeit bleiben. Es gibt noch viel zu entdecken in dieser Stadt, die so viele verschiedene Gesichter hat. In einigen Tagen soll es mit dem Zug Richtung Westen weiter gehen. Welcher Bahnhof dann für sie der richtige sein wird, dass werden sie bis dahin mit Sicherheit von Monica erfahren haben.
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Artikel vom 1. November 2005

Kommentare über Sarajevo

Leserin am 14.11.2005:
schön und spannend!


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