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KOMMENTAR 22.7.2006

Jan Ullrich – Star auf Abwegen?

Jan Ullrich hat in seiner Karriere alle Höhen und Tiefen erlebt. Trotz bisweilen harter Kritik der Presse konnte er aber immer auf seine Fans zählen. Der Superstar unter den deutschen Sportlern hat sich nun aber wohl endgültig verfahren – die dünne Erklärung, die Ullrich angesichts der Dopinganschuldigungen mittlerweile abgab, kommt einem Schuldeingeständnis gleich. Eine Analyse zum Zeitpunkt des wahrscheinlichen Karriere-Endes des Jahrhunderttalents Jan Ullrich.
Jan Ullrich: Er hatte Millionen Zuschauer zu Radsport-Fans gemacht
© T-MOBILE TEAM
Jan Ullrich: Er hatte Millionen Zuschauer zu Radsport-Fans gemacht
Radsport? Anfang der 90er-Jahre gab es wahrscheinlich nicht viele Publikumssportarten, die unbeliebter waren. Das sollte sich 1996 ändern, als ein gewisser Jan Ullrich beim härtesten Sportereignis der Welt, der Tour de France, in seinem ersten Profijahr auf Platz zwei fuhr. Der gebürtige Rostocker mit den sympathischen Sommersprossen im Gesicht eroberte die Herzen der Fans im Sturm. Endgültig zum Sporthelden wurde er dann im im darauf folgenden Jahr, als er die Tour-de-France als erster Deutscher gewinnen konnte.

Sein eleganter Fahrstil beim Zeitfahren, sein unwiderstehlicher Rhythmus im Hochgebirge, die große Ausdauer, das alles gepaart mit einem für Radfahrer idealen Körperbau – ein Jahrhunderttalent war augenscheinlich auf der Bildfläche erschienen, und nicht nur das: Auch die breite Öffentlichkeit interessierte sich plötzlich für stundenlange Radsport-Übertragungen mit mittelmäßigen Kommentatoren. Öffentlich-rechtliche Sondersendungen über eine Bergankunft des neuen Rad-Idols in einem 500-Seelen-Dorf in den französischen Alpen wurden zum Quotenhit. Jan Ullrich hatte Millionen Zuschauer, männlich wie weiblich, zu Radsport-Fans gemacht.

Perfekte Parforce-Ritte hinter dem Sieger

Ullrich würde über Jahre hinaus unschlagbar sein, prophezeiten die Experten. Jahr für Jahr sollte es ein wenig anders kommen. Bereits 1998 gab es mit Marco Pantani einen Stärkeren, Ullrich wurde "nur" Tour-Zweiter. 1999 stürzte "Ulle" schwer und musste die Tour auslassen. 2000 war es dann der vom Krebs geheilte Lance-Armstrong, der Ullrich im Duell der Radsport-Giganten die Show stahl. Auch die nächsten fünf Jahre gewann der Amerikaner, Ullrich wurde dreimal Zweiter, einmal Dritter, einmal Vierter.

Fast schon hatten sich die Zuschauer inzwischen daran gewöhnt, dass Ullrich – einst jüngster Amateurweltmeister aller Zeiten – den Platz hinter dem Gewinner abonniert zu haben schien. Man verzieh ihm auch eine Dopingsperre im Jahr 2002 wegen der angeblichen Einnahme zweier Ecstasy-Tabletten. Ein Autounfall mit Fahrerflucht nach einer feucht-fröhlichen Partynacht in Freiburg? Schnee von gestern! Es war einfach zu schön, Jahr für Jahr die perfekten Parforce-Ritte des Pneu-Ästheten in der Hitze des französischen Sommers mitzuerleben und in Erinnerungen an den ersten und einzigen Toursieg eines deutschen Radrennfahrers im Jahr 1997 zu schwelgen. Ja, es schien sogar so, dass das Publikum Gefallen daran gefunden hatte, in Ullrich den sympathischen Sieger hinter dem Gewinner zu sehen. So wie anno 2003, als er so nah wie nie zuvor dran war, den "Außerirdischen" Lance Armstrong bei der Tour de France zu besiegen.

Spanischer Doping-Sumpf bringt Ullrich zu Fall

Der Mehrzahl der Zuschauer war es jedenfalls egal, ob Ullrich siegte oder nicht – Hauptsache der Held war dabei. Und einen Joker hatte man ja noch im Ärmel: Irgendwann nach dem Rücktritt Armstrongs würde es schon wieder klappen mit dem Tour-Sieg, egal wieviel Übergewicht der pausbäckige Radsport-Beau im Frühjahr wieder mit sich herumschleppte. Heute scheint klar: Ullrich wollte die Rolle des tragischen Helden auf seine ganz eigene Weise interpretieren. Dabei hat er vergessen, dass man nicht unbedingt gewinnen muss, um von den Fans gefeiert zu werden – Klinsmann lässt grüßen.

Die Indizien aus den Ermittlungen der spanischen "guardia civil" legen nahe, dass Jan Ullrich im Kampf um einen weiteren Tour-Sieg zuviel gewagt zu haben scheint: Im Zuge der Doping-Enthüllungen um den Arzt Fuentes kommt der radelnde Held im Herbst seiner Karriere zu Fall. Und täglich kommen neue Doping-Spekulationen hinzu: Nicht nur Eigenblutdoping, sondern auch Wachstumshormone. Nicht nur im Vorfeld der Tour 2006, sondern bereits auch im vorherigen Jahr soll es illegale Maßnahmen bei Ullrich und seinem zwielichtigen Begleiter Rudy Pevenage gegeben haben. Das Heldenstück kippt und wird zur Tragödie.

Ja, es stimmt, dass in einem Rechtsstaat der Grundsatz "im Zweifel für den Angeklagten" gelten mag. Das anwaltlich verordnete Schweigen Ullrichs auch zwei Wochen nach seiner Suspendierung macht nichts besser. Schlimmer noch: Es kommt einem Schuldeingeständnis gleich. Für Ullrich ist es wohl das abrupte Ende seiner Karriere, während der er nicht nur einen Tour-de-France-Sieg und sechs Podiumsplätze beim härtesten Sportrennen der Welt errungen hat: Auch eine Gold- und Silbermedaille bei den Olympischen Spielen sowie Siege bei der Vuelta in Spanien und der Tour de Suisse stehen für ihn zu Buche. Für seine Fans aber sind bereits die unbewiesenen Doping-Enthüllungen ein Keulenschlag ins Gesicht. Ullrich, der Anständige. Der Sportsmann und Olympiasiger, Träger der Fair-Play-Plakette der Deutschen Olympischen Gesellschaft, verwickelt in einen großen Doping-Sumpf?

Helden verzeiht man

Wäre Ullrich auch dieses Jahr wieder nur Tour-Zweiter geworden – es wäre eine Randnotiz gewesen, wenn man in einigen Jahren auf seine Karriere zurückgeblickt hätte. Doch es scheint so, also ob der Held im Kampf um ein paar Jahre mehr Erinnerung im kollektiven Gedächtnis der Sportnation zuviel gewollt hat. Wer dopt, testet keinesfalls die zulässigen Grenzen nur aus, sondern überschreitet sie meilenweit. Es wäre hinfällig, ob sich unser Held angesichts der medialen Erwartungshaltung in einer Bringschuld sah. Es spielt auch keine Rolle, ob Doping im Radsport nun schon seit Jahrzehnten gängige Praxis ist oder nicht. Denn Millionen von Kindern und Jugendlichen in Deutschland, in Europa und auf der ganzen Welt eifern den Radsportlern nach und sehen in ihnen leuchtende Vorbilder. Falls Ullrich, das Jahrhunderttalent, wirklich gedopt hat – er hätte es besser wissen müssen.

Es bleibt zu hoffen, dass Ullrich letztlich doch noch sein bislang eisernes Schweigen bricht. Helden wird schließlich verziehen - oder erinnert sich noch jemand daran, dass Rudi Altig einst "die rollende Apotheke" genannt wurde? Wenn der Held Jan Ullrich seine Unschuld wirklich nicht beweisen kann – die Hoffnung stirbt ja doch stets zuletzt – dann sollte er zumindest eingestehen, dass er Mist gebaut hat. Die Illusion ist sowieso zerstört. Schweigt er jedoch weiter, steht auch der Radsport wieder dort, wo er am Anfang der Karriere des Sportlers Jan Ullrich bereits war – mitten in der Bedeutungslosigkeit.
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Artikel vom 22. Juli 2006

Kommentare über Kommentar

Kiana am 23.07.2006:
@ Ullrich-Fan

Wir leben in Deutschland und die deutsche Presse interessiert sich in erster Linie nun einmal für einheimischen Stars , im positiven wie im negativen Sinne. Das ist wohl nur natürlich oder? Genauso wie es die überwiegende Mehrheit der Leser in Deutschland nur interessiert, was mit den deutschen Radsportlern los ist. Und von denen ist Jan Ulrich einzig und alleine derjenige der beim Doping erwischt wurde, oder sehe ich das verkehrt!?


Größter Ulle Fan am 23.07.2006:
Mir ist es egal, ob alle im Radsport dopen oder nicht. Ich war immer absolut totsicher, dass Ulle sauber ist.
Und jetzt sieht es immer mehr so aus, als sei das nicht so und mir geht es wie den in dem Artikel beschriebenen Jugendlichen: ich habe ihn immer als leuchtendes Vorbild gesehen. Menschlich und sportlich stand er für mich immer so deutlich über den anderen!
Deshalb war es ja auch so leicht zu ertragen, dass er oft "nur" zweiter wurde. Es war egal, er kämpfte so schön, er litt und dann erkannte er einfach an, dass da jemand stärker war.
Das Bild meines Helden hat einen erheblichen Kratzer gekriegt. Trotzdem: Der Mensch Jan Ullrich tut mir jetzt leid. Ich wünschte er könnte die Größe aufbringen darüber zu sprechen, was ihn dahin getrieben hat.
Ich würde ihm verzeihen! Denn auch wenn das Ende nicht schön war, die Jahre in denen ich begeistert vorm Fernseher hing und seine Rennen beobachtet habe, die vergesse ich ihm nicht. Sie waren wundervoll!


Ullrich-Fan am 22.07.2006:
Jan Ullrich steht wohl stellvertretend für alle Doping-Sünder da ? Oder wie ist es sonst zu erklären, daß die vielen, vielen anderen Fahrer, die angeblich gedopt haben, nur am Rande erwähnt werden? Bis jetzt steht Jan Ullrich unter Verdacht und nichts ist bewiesen. Aber das ist typisch für die Medien, erst den Sportler in den Himmel heben und dann auf in einprügeln. Aber vielleicht will man ja auch nur das Sommerloch füllen, auf Kosten von Jan Ullrich. Aber dieses Jahr war ja eine sogenannte "Saubere Tour", die man mit Diäten, Nudeln und ein gutes Frühstück locker bewältigen kann.


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