C6 MAGAZIN
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REPORTAGE 29.5.2006

Jahreshauptversammlung meiner Ich-AG

Deutschland und die Arbeitslosigkeit. Das alte Thema. Beinahe fünf Millionen Arbeitslose sind es derzeit und wie diese Zahl langfristig verändert werden kann, ist mehr als umstritten. Der drohende Klang von Hartz IV und Ein-Euro-Jobs hallt durch die Bundesrepublik und verunsichert die Nation. Dass das aber nicht sein muss, zeigen verschiedene Begegnungen mit jungen Menschen in der Hauptstadt, die ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen und ihre eigenen Erfolgsgeschichten schreiben.

© DANIEL ECKOLD
"Viele Wege führen zum Ziel," sagt Martin P. und klingt wie ein Existenzgründungsberater der Sparkasse. Dabei weist allein schon Martins Äußeres darauf hin, dass eine Bank so ziemlich der letzte Ort ist, an dem er sich wohl fühlt. Seine Öl verschmierte Hand greift nach einer Flasche Bier. Es ist fast einundzwanzig Uhr und Martin sitzt nach einem langen Arbeitstag in seiner Küche und erzählt.

Der 25jährige ist Besitzer eines kleinen Fahrradladens im Prenzlauer Berg. Ziemlich genau vor drei Jahren hat er ihn eröffnet und damit wahrscheinlich gegen jede Regel verstoßen, die man auf dem Weg zur Ich-AG beachten sollte. Ohne jemals auch nur an einem Fahrrad geschraubt zu haben, ohne Kapital und das nötige Werkzeug mietete er damals ein leer stehendes Geschäft an und begann, alte Räder zu reparieren. Die meisten hatten ihm Freunde zu Versuchzwecken überlassen. "Aus heutiger Sicht war das absoluter Wahnsinn," sagt Martin wenn er sich an die Anfänge erinnert. Aber was verrückt klingen mag, hat ihn weit gebracht.

Vom Hausmeister zum Unternehmer

Damals hielt er sich mit Hausmeisterjobs und Sanierungsarbeiten über Wasser. Dass Schutt wegzuräumen und hin und wieder eine Wohnung zu streichen auf Dauer nicht für den Lebensunterhalt reichen würde, war ihm klar. Aber Martin hatte die denkbar schlechtesten Voraussetzungen für die Berufswelt. Als Vater einer einjährigen Tochter, ohne Abitur und Ausbildung und als fahnenflüchtiger Totalverweigerer auch mit einer Haftstrafe rechnend, gab es für ihn weitaus weniger Perspektive als für die meisten Arbeitslosen. Nach einem wilden Jahr in Spanien, wo er auf dem Bau gearbeitet hatte, fand er nach seiner Rückkehr ins heimische Berlin keinen Zugang zum deutschen Leben. Seine handwerkliche Begabung, die ihn im Süden innerhalb kürzester Zeit zum gut verdienenden Maurer gemacht hatte, schien ohne Abschluss in Deutschland nichts wert zu sein. Martin war ein Fall fürs Arbeitsamt. Aber er ließ sich nicht unterkriegen und suchte, Idealist und Träumer der er ist, nach Lösungen.

Es gibt viel zu tun
© DANIEL ECKOLD
Es gibt viel zu tun
Der muskulöse junge Mann mit den zahlreichen Tattoos auf den Armen und Piercings im Gesicht, strahlt Lebensfreude und Kraft aus. Dabei hatte es WULF, der Zweiradladen für An- und Verkauf, schwer in den ersten Monaten. Martins Idee, jedem der reparierten Fahrräder sein Markenzeichen zu verpassen, einen schwarz lackierten Rahmen mit eigenem Logo, scheiterte. Der Plan mit der eigenen Corporate Identity war zu aufwendig und die WULF-Bikes brachten nicht den nötigen Umsatz. Und dennoch lockte der Laden immer mehr Menschen an. Zwar wollte niemand seine Trend-Räder kaufen, aber Martin reparierte flink und preiswert und das sprach sich herum. "Unsere Kunden sind jung und haben wenig Geld. Deshalb drehen wir jede Schraube drei Mal um und sehen, was man wiederverwerten kann," erklärt er sein Konzept. Und so werden aus kaputten Drahteseln funktionstüchtige Räder, Nostalgiker können sich wieder an den Fortbewegungsmitteln ihrer Jugend erfreuen und auch Motorradfahrer finden bei technischen Problemen in Martins Zweiradladen immer Unterstützung.

Das Geschäftsprinzip von WULF geht auf. Martin und seine inzwischen drei Mitarbeiter schrauben, tüfteln und reparieren völlig zugeschnitten auf die Wünsche ihrer Kunden. Ein Pimp-my-bike für Studenten gewissermaßen. Sie entrosten lieber Schrauben statt teures Material zu verkaufen und bauen auch mal selbst einen neuen Motor zusammen, wenn es keine Ersatzteile mehr gibt. Dieses Engagement lohnt sich. Martin kann sich vor Aufträgen kaum retten und inzwischen bleibt ihm auch mehr Zeit für seine Familie. Von den vielen Wegen, die es im Leben gibt, hat Martin seinen gefunden, so viel steht fest.

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Artikel vom 29. Mai 2006

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